Die Versuche, Klassiker in die Gegenwart zu stemmen, können auch so richtig schiefgehen, weil sie oft die Duftnote der Anstrengung atmen. Im Regietheater der 1980er-Jahre wurde dieses Hochjazzen von Brocken der Theaterliteratur in die Aktualität irgendwann nur mehr mit müden Seufzern wie „Nicht schon wieder Hamlet im Frack!“ oder „Bitte alles, nur keine halb nackten Nazis mehr!“ bedacht. Simon Stone, der wie ein Hippiekind von Rudolf-Steiner-affinen Eltern wirkt, hat mit seiner hemmungsbefreiten Vereinnahmung großer Literatur ein neues Genre geschaffen, an dem bereits viele Epigonen anzudocken versuchten.

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Schon bei der ersten Dosis Simon Stone in Form von Ibsens „Wildente“ bei den Wiener Festwochen 2013 ahnte man, dass man es hier mit einem Jahrzehntetalent zu tun hat. 

Beiläufige Wahnsinnigwerdung

Eine Sternstunde feierte er mit „John Gabriel Borkman“ und einem Ensemble, das durch das Karstgebiet enttäuschter Erwartungen und toxischer Beziehungen mit einer Spiellibido zog, die auch von Stones Qualitäten als Regisseur zeugt. Nie hat man die so schmerzlich vermisste Caroline Peters später besser gesehen als in ihrer nahezu beiläufigen Wahnsinnigwerdung als Stones „Medea“.

Dass der Schweiz-Australier, der seine Literaturbesessenheit langen Kinderkrankheiten mit Bettruhe zu verdanken hat, ein sanfter Navigator sein muss, zeigt sich dar­an, dass er häufig dieselbe Mischpoche an Großmim:innen um sich schart. Sie alle spielen ohne Donner, aber nie unterkühlt. Sie alle waren selten besser. Die Nervenzusammenbrüche, die Mavie Hörbiger, ­Roland Koch und Michael Maertens in den „Komplizen“ anzubieten haben, zählen zur E-Klasse von Darstellungskunst. In dem Hybrid aus den zwei Gorki-Stücken „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ gibt es kaum Trost, kaum Hoffnung, dafür jede Aussichtslosigkeit, die manche verrückt werden lässt. 

„Komplizen" im Burgtheater als Bienenstock der Befindlichkeiten

Es sind messerscharfe Analysen von tektonischen Gesellschaftsverschiebungen, in denen wir uns nicht erst seit Corona befinden. Das Wegbrechen des Mittelstands, die Verdrängungsakrobatik der Reichen, Überfremdungspanik, die Wut der Abge­hängten, der überall lauernde Rechtsmob, die Einsamkeit (vor allem in Beziehungen), die Menschen schon die Lebenslust abgraben kann.

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In der James-Bond-Villa in Wien 19 geht es zu wie in einem Bienenstock der Befindlichkeiten. Ihre seelischen Verstimmungen beschäftigen ihre Besitzer so sehr, dass sie die Revolution, die ihnen die Designerfenster mit Graffiti vollsprüht, kaum bemerken. Und da liegt Stones Raffi­nesse - in der kunstvollen Verwebung von großen Umbrüchen und narzisstischen ­Nabelschauen, wo Psychotherapie, Insta­gram und die Generation Glutenfrei durch den Kakao gezogen werden.

Simon Stone als Bühnenzauberer

Endlich sitzt man vor Menschen, die so leben wie Sie, Sie und leider auch ich. Gegen Ende lässt der verkrachte, versoffene Wissenschaftler Paul (Michael Maertens) folgendes Mantra ab: „Ich höre auf mit dem Trinken … Ich komme wieder öfter ins Theater … Ich schaue mir diese ganzen Hotels auf Instagram an und organisiere Ausflüge …“ Und seine Nochfrau Tanja sagt irgendwann: „Das ist enttäuschend, aber nicht schrecklich.“ 

Besser kann man die Atmosphäre, die Simon Stone zaubert, wohl nicht beschreiben.

Aktuelle Termine: Komplizen im Wiener Burgtheater

Angelika Hagers Kolumne
Angelika Hager ist Journalistin und Autorin.

Foto: Rafaela Proell

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).