Das beste Theaterstück der letzten Wochen habe ich kürzlich im Kino gesehen. Der Film „Nebenan“ in der Regie von Daniel Brühl barg alle Facetten, die ein sogenanntes „well made play“ in sich tragen sollte: Menschen in der Bredouille, interessante, weil ziemlich verkorkste Seelen; Dialoge, die literarisch anspruchsvoll, aber dennoch nicht wie aus der Mottentruhe, sondern heutig und ­unaufgesetzt klingen; eine Handlung, die die Protagonisten schichtenweise bloßlegt, aber auch voller unvorhergesehener Kehrtwendungen ist. 

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Ein Film wie ein Theaterstück

Tatsächlich muss man Daniel Kehlmann, der dankenswerterweise inzwischen auch eine Art Hausautor der „Josefstadt“ geworden ist, hiermit attestieren, dass er nach der Idee von Herrn Brühl ein Meisterwerk geschaffen hat. Der Plot ist simpel: Hipster-­Filmstar-Fuzzi trifft in seiner Berliner Stammkneipe einen von der Wende gebeutelten Ossi, der schon immer in dem gemeinsamen Wohnhaus in der zwischenzeitigen Gentrification-Hölle Prenzlauer Berg gelebt hat. Der Typ weiß aus anfänglich mysteriösen Gründen alles über den Eindringling und zertrümmert häppchenweise dessen Leben. „Das Leben der anderen“ trifft auf „Die Hölle, das sind die anderen“, um eine alte Lebensweisheit von Herrn Sartre zu bemühen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir „Nebenan“ auf einer Bühne sehen. Hoffentlich. 

Warum bekommen wir eigentlich generell so wenig „well made“ Stücke zu sehen (wie zum Beispiel Hopkins’ „Diese Geschichte von Ihnen“ oder alles von Simon Stone), die in einem Zusammenhang mit unseren tatsächlichen Lebenswelten stehen? Warum verdonnern die Dramaturgen und ­Regisseure ihr Publikum, das an Tinder-Burn-out, Steuerproblemen, Bandscheibenvorfällen, Depressionen und dem Wettbewerbszwang, auf Insta glamouröses Leben und Glück (#mylifeisbetterthanyours) zu simulieren, leidet, ständig zu Jahrhunderte entfernten Zeitreisen: in englische Kerker („Maria Stuart“), Zauberinseln („Der Sturm“), auf denen manipulative Magier ihr Unwesen treiben, auf Ritterburgen und in toxische Beziehungen („Das Käthchen von Heilbronn“) oder in dänische Geisterstunden, in denen bipolare Prinzen einen Auftragsmord entgegennehmen („Hamlet“).

Klassiker, nicht umzubringen

Als ich mich kürzlich durch Thomas Bernhard wühlte, stieß ich in dem herr­lichen Bändchen „Bernhard für Boshafte“ auf folgendes Gift-Geschleuder, das der Misanthrop in einem Interview versprüht hat: „Herr Peymann leidet an der unheilbaren Klassikerkrankheit, die sich (…) in den letzten Mona­ten in ihm zu einer geradezu bösartig galoppierenden entwickelt hat, und er wird, wie ich es sehe, bis an sein Lebensende nicht auf­hören, alle diese widerwärtigen, primitiven und ordinären englischen, französischen und spanischen Klassiker aufzuführen, die unter den Namen Shakespeare, Molière, Lope de Vega bekannt und berüchtigt und leider in ihrer Vulgarität nicht umzubringen sind.“ 

Die Klassikerseuche hat sich besonders in der deutschsprachigen Theaterlandschaft mit einer gewissen Zähigkeit festgefressen."

Angelika Hager
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Diese „Klassikerseuche“, wie Bernhard das an anderer Stelle nennt, ist nicht nur eine Diagnose, an der Herr Peymann litt – zwischendurch erlag er dem Himmel sei Dank auch der Bernhard-Krankheit und brachte mehr als ein Dutzend seiner Stücke zur Uraufführung. Die Klassikerseuche hat sich besonders in der deutschsprachigen Theater­landschaft mit einer gewissen Zähigkeit festgefressen. Klar doch, das Argument heißt dann immer „von beklemmender Aktualität“ oder „Systemkritik, die wie nahtlos ins Hier und Heute“ passt. „Ja eh“, würde der Wiener sagen, aber bitte nicht nur. In diesem Sinn: Bitte mehr Menschen wie du und leider auch ich auf diese Bühnen!

Angelika Hagers Kolumne
Angelika Hager ist Journalistin und Autorin.

Foto: Rafaela Proell

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesell­schafts­resssort beim Nachrichtenmagazin „profil“. Sie ist die Frau ­hinter dem Kolumnen-­Pseudo­nym Polly Adler im ­„Kurier“. Hager gestaltet das Theaterfestival Schwimmender Salon im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich). 

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