Geschichten aus dem Wiener Wald: Alles Walzer
Der Walzer ist nicht nur Dreh- und Angelpunkt in Rieke Süßkows Inszenierung der „Geschichten aus dem Wiener Wald“, er ist auch Spiel- und Sprechsystem. Was das mit dem Aufbrechen von Mustern zu tun hat, erzählt die Regisseurin im Interview.
Man kann es drehen und wenden, wie man will – Ödön von Horváths 1931 uraufgeführtes Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ wird – tragischerweise – vermutlich nicht so schnell an Aktualität verlieren. Das weiß auch Regisseurin Rieke Süßkow, die schon lange mit dem Gedanken spielt, dieses fast ikonische Volksstück auf die Bühne zu bringen. „Ich dachte kurz, ob es nicht zu sehr auf der Hand liegt, das Stück im ersten Jahr hier zu machen. Gleichzeitig hat es, hundert Jahre nach seiner Entstehung, nicht an Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil“, so Süßkow, die nach einer kurzen Pause hinzufügt: „Nicht nur, was die Wirtschaftskrise und den aufkommenden Faschismus in Europa angeht, sondern auch was die Gewalt gegen Frauen betrifft.“
Drüberwalzen
Das Jahr 2024, in dem in Wien fünf Frauen an nur einem Tag ermordet wurden, sei auch jenes Jahr gewesen, in dem sie sich mit ihrem Team dazu entschieden hat, das Stück auf die Bühne zu bringen, sagt die neue Hausregisseurin des Volkstheaters. „Diese Drastik möchten wir noch stärker herausstellen“, hält Rieke Süßkow fest. Das Problem sei auch, wie sehr Missbrauch und Gewalt in der Gesellschaft normalisiert sind und wie sehr das Thema nach wie vor verharmlost wird, fügt sie hinzu.
Ein ähnlicher Mechanismus tritt in Horváths Stück zutage. „Immer dann, wenn man den Finger auf eine Situation legen möchte, in der ein Übergriff passiert, fährt jemand drüber oder es geht der Walzer los. Genau das möchten wir in der Inszenierung untersuchen“, bemerkt die Regisseurin, die in ihrer Arbeit stets nach Momenten der Überhöhung, der Unruhe und der Reibung sucht.
„Ich will auf der Bühne weg vom Alltag, vom Alltagskörper und von der Alltagsehgewohnheit“, hat sie einmal in einem Interview gesagt. Ihren eigenen Alltagskörper hat sie noch vor der Probe zu unserem Termin geschleppt, wobei man ihr die frühe Uhrzeit überhaupt nicht anmerkt. Druckreif erzählt Rieke Süßkow, warum sie Sehgewohnheiten und Konventionen durchbrechen möchte und weshalb der Walzer in ihrer Inszenierung eine zentrale Rolle spielt.
ist Hausregisseurin am Volkstheater. Die gebürtige Berlinerin studierte in Wien und Hamburg. Für ihre Inszenierung „Oxytocin, Baby“ von Anna Neata gewann sie 2022 einen NESTROY. Mit ihrer Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“ wurde sie 2023 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Auch mit ihrer Nürnberger Inszenierung "Übergewicht, unwichtig: Uniform" war sie in Berlin zu Gast.
Stolpern auslösen
„Bei uns hat die Musik eine narrative Funktion“, merkt sie mit ruhiger Stimme an. „Es gibt unglaublich viele Stellen im Text, in denen der Walzer vorkommt. Wir möchten ihn in aller Konsequenz ernst nehmen, weil er immer wieder über die bereits erwähnten Grenzlinien drüberfährt, sodass der Moment, in dem der Übergriff passiert, verschwimmt – sich nicht mehr klar nachzeichnen lässt. Der Walzer ist bei uns deshalb nicht bloß Stilmittel, sondern fungiert als Spiel- und Sprechsystem“, beschreibt Rieke Süßkow den Soundtrack ihrer Inszenierung, der eben sehr viel mehr ist als nur das.
Es dreht sich also nicht alles um den Walzer, dennoch ist er in ihrer Inszenierung, die sie – wie auch schon ihre Arbeiten davor – als künstlerisches Zusammenspiel aller Gewerke und Theatermittel versteht, in gewisser Weise Dreh- und Angelpunkt. Horváths Figuren, die sich um sich selbst und sich gleichzeitig auch immer wieder im Kreis drehen, hat die Regisseurin so besetzt, dass eine Entlarvung stattfinden kann.
„Uns war es deshalb wichtig, die Spieler*innen von den Figuren wegzurücken und damit Stereotypen und gelernte Verhaltensmuster aufzudecken. „Wenn ein männlicher Schauspieler den Text von Marianne spricht, hört – und versteht – man ihn anders“, bringt Rieke Süßkow ihren Wunsch, sich von Alltäglichem zu lösen, auf den Punkt. Damit möchte die in Wien lebende Regisseurin niemandem auf die Füße steigen, das Publikum aber schon gern ein bisschen aus dem gewohnten Takt bringen. „Für mich ist es ein großes Ziel, in den Zuschauer*innen eine Form von Unruhe oder ein Stolpern auszulösen. Im Theater ist die Reibungslosigkeit eines meiner größten Feindbilder. Mich interessiert die Reibung in der Reibungslosigkeit“, erklärt die Regisseurin, die es sich in ihrem Beruf auf gar keinen Fall gemütlich machen möchte.
Ihr Bekenntnis zu starken Formen hat nämlich nichts damit zu tun, dass sie sich auf irgendwelchen Formeln aus- ruhen möchte. In ihrer Arbeit gehe sie zudem immer von einer genauen Auseinandersetzung mit dem Text aus, fügt sie hinzu. Außerdem sei es gerade bei Horváth sehr wichtig, die Figuren zu tausend Prozent ernst zu nehmen, sie also keinesfalls auszustellen und sich über sie lustig zu machen. „Gleichzeitig dürfen sie aber auch nicht zu klug sein“, merkt sie an. „Ich finde diese Figuren unter anderem deshalb so spannend, weil sie das Ende und die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht überblicken. Sie haben keinen großen Masterplan. Die Sätze fallen eher aus ihren Mündern heraus und liegen dann wie Krümel vor ihnen.“
Sie lacht und fügt hinzu, dass daran wohl sehr viele Menschen anknüpfen können. „Ich weiß auch noch nicht, was dieses Interview letztendlich für Konsequenzen haben wird.“
Ich suche nach der Reibung in der Reibungslosigkeit.
Rieke Süßkow, Regisseurin
Radikal hinhören
Auch bei den Produktionsbedingungen wünscht sie sich eine Loslösung von veralteten Strukturen und Konventionen. Sie sei sehr glücklich, bei Jan Philipp Gloger in Nürnberg gelandet zu sein, weil sie sich von ihm in ihrer Sichtweise ernst genommen fühlte. „Auch hier in Wien war es so, dass wir Vorproben-Workshops machen konnten, um mit den Spielenden und dem Musiker Dinge auszuprobieren. Dadurch können auch die Spielenden eine ganz andere Verantwortung für die gesamte Arbeit übernehmen. Ich habe kein Interesse daran, irgendjemanden über die Bühne zu schubsen. Es wäre schön, wenn auch andere Betriebe Bedingungen schaffen würden, die etwas besser auf die Arbeitsweisen der jeweiligen Künstler*innen abgestimmt sind.“
Rieke Süßkow ist am Volkstheater auch noch in ein anderes Projekt involviert: Das Volksohr ist eine Arbeit der Regisseurin und des bildenden Künstlers Stephan Thierbach und entstand einerseits aus der Idee, konkrete Alltagssprache auf die Bühne zu bringen, und andererseits aus Thierbachs Wunsch, den öffentlichen Raum mit bestimmten Bewegungsformen zu irritieren. Das Volksohr wandert durch ganz Wien und hört einfach zu. Das Ziel ist nicht, dass ein Gespräch entsteht. „Es ist ein radikales Hinhören“, so Süßkow. „Mich interessiert Alltagssprache sehr, aber nicht in geschriebener Form. Wenn man das wirklich eins zu eins so auf der Bühne verwendet, entsteht ein ganz eigener Rhythmus.“ Vielleicht auch so etwas wie eine Unruhe, womit sich der Kreis zum Walzer und zu den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ wieder schließt.
Nach dem Interview stolpern wir ins Freie. Und bald bestimmt auch lustvoll und sinnlich über internalisierte Verhaltensmuster.
Hier geht es zu den Spielterminen von "Geschichten aus dem Wiener Wald" im Volkstheater!