„Es gibt viel zu sehen“, sagt Nils Voges mit der für ihn typischen offenen Art, der gleichzeitig etwas Geheimnisvolles anhaftet. Darauf, wie viel seine Art sich auszudrücken über die von ihm gemeinsam mit Malte Jehmlich und Nikolai Krahwinkel gegründete Form des Theatermachens verrät, werden wir später noch zu sprechen kommen. Zunächst gilt es, festzuhalten, dass das Versprechen visueller Mannigfaltigkeit nicht nur auf das von ihm inszenierte Stück – eine Bühnenbearbeitung des Romans „Die Inkommensurablen“ von Raphaela Edelbauer – zutrifft, sondern auch auf unseren Probenbesuch in Simmering.

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Während im großen Hauptraum der Probebühne des Volkstheaters – bis auf vier mit schwarzer Verkleidung ausgestattete Overheadprojektoren – alles wie gewohnt nach Theaterprobe aussieht, tun sich in den Räumen dahinter Welten auf, die man normalerweise nicht mit dem Theaterbetrieb in Verbindung bringen würde. „Das ist unsere Animationswerkstatt“, sagt Voges, und wir nähern uns einem Computerbildschirm, der ein Bild zeigt, das an „Das letzte Abendmahl“ erinnert.

Man wird total verzaubert, während man den Zaubertrick gezeigt bekommt.

Nils Voges, Regisseur & Medienkünstler

Illustrator Karl Uhlenbrock ist gerade dabei, ihm den letzten Schliff zu verpassen, damit es anschließend seinen Weg auf eine der vielen Plexiglasplatten findet, die das Künstler*innenkollektiv sputnic, dem Nils Voges als Mitbegründer angehört, für ihr Theatervorhaben brauchen. Um es nicht noch komplexer zu machen, lassen wir die Funktion der Nudelhölzer, die sich ebenfalls im Raum befinden, fürs Erste beiseite.

Die Inkomensurablen
Auf diese Weise entstehen die Bilder auf den Plexiglasplatten.

Foto: Lukas Gansterer

Multitasking

Rollen wir das Ganze – sprichwörtlich, versteht sich – trotzdem einmal von Anfang an aus: Bei den von sputnic gestalteten Theaterabenden entsteht mithilfe von Animationsplatten, die auf Overheadprojektoren gelegt und deren Inhalte auf Leinwände projiziert werden, vor den Augen des Publikums ein Trickfilm. Bei den „Inkommensurablen“ werden es in etwa 350 Platten sein, vermutet Nils Voges, der Regie führt und auch die Textfassung geschrieben hat. Animiert werden die Platten von den Spieler*innen – sie erwecken die Figuren zum Leben, sprechen die Dialoge und sind auch für die Schnitte zwischen den einzelnen Szenen verantwortlich.

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„Es ist sowohl ein technischer als auch ein künstlerischer und performativer Vorgang. Das ist auch für die Zuschauer*innen spannend, weil man in einer Szene vielleicht mehr von der Performance auf der Bühne eingenommen wird oder das Making-of des Films beobachtet, während man sich in der nächsten im Trickfilm verliert und vielleicht sogar vergisst, dass man gerade in einem Theater sitzt“, bringt es Nils Voges auf den Punkt.

Kurz: Es gibt viel zu sehen! Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Die Spieler*innen sind am Beginn der Proben meist ziemlich überfordert, weil sie technische Abläufe zu ihren spielerischen Aufgaben hinzufügen müssen. Gleichzeitig müssen sie die Texte lernen. In der Regel ist es jedoch so, dass es nach zwei Wochen klick macht und gewisse Abläufe so internalisiert sind, dass es plötzlich wie von selbst läuft. Dadurch entsteht bei den Spieler*innen eine Freiheit, die die Charaktere noch mehr leuchten lässt.“

Die Inkommensurablen
Mithilfe einfacher Mechanismen lassen sich die Bilder animieren.

Foto: Lukas Gansterer

Bei den „Inkommensurablen“ sind es Gerti Drassl, Hardy Emilian Jürgens, Fabian Reichenbach und Anna Rieser, die im Laufe der Probenzeit in ihr neues Aufgabenkonglomerat wie auch in ihre Figuren hineinwachsen. Letztere heißen Helene, Hans, Adam und Klara und stammen aus Edelbauers 2023 erschienenem Roman, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Wien spielt.

Der Inhalt des Buches in aller Kürze: Der Tiroler Pferdeknecht Hans kommt nach Wien, weil er glaubt, die Gedanken anderer Menschen vorausahnen zu können, und sich aufgrund dessen in Psychoanalyse begeben möchte. Vor Helenes Praxis trifft er auf die promovierende Mathematikerin Klara und den adeligen Musikstudenten Adam, mit denen er sich auf einen rauschhaften Trip durch die Wiener Nacht begibt. Rund um das Trio entfaltet sich indes eine Kriegseuphorie, die einem Fiebertaumel gleicht und sämtliche Bereiche des Wiener Stadtlebens durchdringt. Am darauffolgenden Tag ist das deutsche Ultimatum abgelaufen, und Deutschland erklärt Russland den Krieg.

„Ich wollte eine andere Art von Aufmerksamkeit für Details entwickeln, viel Sorgfalt in die Figurenentwicklung stecken und vor allem die dichte Atmosphäre des Vorabends des Ersten Weltkriegs in vielen Facetten schildern“, sagt Raphaela Edelbauer über ihren Roman, mit dem sie für den diesjährigen deutschen Buchpreis nominiert war. Der Stoff ist der in Wien geborenen Autorin während des ersten Corona-Lockdowns eingefallen. „Ich fand die Masseneffekte, die während der Pandemie virulent wurden, wahnsinnig interessant“, so Edelbauer.

Die Inkommensurablen
Making Overheadprojektoren cool again. Nils Voges zeigt, wie die auf Plexiglasplatten gebrachten Illustrationen, die sich mithilfe kleiner verschiebbarer Elemente animieren lassen, auf die Leinwand projiziert werden.

Foto: Lukas Gansterer

Offene Trickkiste

Es gibt einerseits diesen rauschhaften Zustand, in dem Hans, Klara und Adam von einer nächtlichen Station zur nächsten taumeln, andererseits auch diese konstante Anspannung zwischen Angst und Begeisterung, die bei allen Charakteren zu spüren ist, hält Nils Voges fest, der zum ersten Mal an einem Wiener Theater arbeitet. Insgesamt ist es bereits die zehnte Inszenierung des Künstlerkollektivs dieser Art. „Wir haben uns mit jeder Arbeit weiterentwickelt“, merkt er an und setzt nach: „Am Anfang war alles noch sehr viel filmischer, und wir hatten auch nur eine Leinwand. Mittlerweile hat sich das sehr gewandelt, die Performance auf der Bühne spielt nun eine weitaus größere Rolle – wie auch das Bühnenbild.“ Ein konstant wichtiger Faktor waren Musik und Soundeffekte, ergänzt Voges, der uns nun durch sämtliche Ecken der Probebühne geführt hat.

Doch nun zurück zum Anfang: zur offenen Art des Künstlers und Theatermachers und zum geheimnisvollen Unterton, der, wenn er über seine Arbeit spricht, stets die Existenz einer spannenden, darunterliegenden Ebene vermuten lässt. Ein wenig wie bei den Stücken, die er mit sputnic konzipiert und auf die Beine stellt. Bei aller Magie, die unter anderem durch das Element des Trickfilms entsteht, sind sie nämlich auch Kunstwerke, die den Prozess ihrer Herstellung bedingungslos offenlegen. Man könnte sie – wenn auch in etwas abgewandelter Form der ursprünglichen Bedeutung – als offene Geheimnisse bezeichnen. Das Spannende ist, dass man verzaubert wird, obwohl einem der Zaubertrick gezeigt wird, hält Nils Voges lachend fest.

Das Offenlegen des Ursprungs der Magie verhindert nicht, dass man sich getrost Kopf voran ins Kaninchenloch stürzen kann, sondern lädt, so Voges, „noch mehr dazu ein, sich verzaubern zu lassen“. Vielleicht ein bisschen so, wie es auch im Roman passiert, als sich Hans von der für ihn nicht klar einzuordnenden Magie des Moments mitreißen lässt. „Das geht auch mit ernsten Themen“, ist Nils Voges überzeugt. „Es klingt vielleicht ein wenig kitschig, aber mir geht es in meiner Arbeit schon auch darum, wieder ein bisschen Zauber in die Welt zu bringen.“

Diese Verzauberung mithilfe analoger Mittel herzustellen hätte gerade im Volkstheater einen besonderen Reiz, fügt er abschließend hinzu. „Es ist naheliegend zu denken, dass man sich in so einem großen Haus all die vorhandenen technischen Mittel zunutze macht. Wir gehen jedoch genau den entgegengesetzten Weg.“ Wohin dieser am Ende genau führt? Auf jeden Fall auf die Bühne des Volkstheaters. Der Rest ist ein offenes Geheimnis.