Peymanns Denken ist der Anlass für das Gespräch. Kein Theaterstück, indem er gerade oder demnächst Regie führen wird. Kein Buch, das er geschrieben hat und promoten will. Das folgende Gespräch findet statt, weil wir Claus Peymann gerne zuhören. Weil er ein kluger, streitbarer Kreativkopf ist, der für die deutschsprachige Theaterlandschaft nachhaltig (ge)prägt und gestaltet (hat), weil er bereits 2002 den NESTROY für sein Lebenswerk bekommen hat und sein Blick auf die Theaterzukunft spannend ist.

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Peymann ist in Wien ein echter Star. Menschen auf der Straße winken, sprechen ihn an, schauen ihm nach. Am Tag vor unserem Treffen hat er in den Kammerspielen der Josefstadt aus Thomas Bernhards Buch „Meine Preise“ gelesen und daraus eine viel belachte und bejubelte Performance gemacht. Am Vormittag war Peymann in einer Generalprobe der Wiener Staatsoper. Es ist 16 Uhr. Um 18 Uhr will er Karin Bergmann, die ehemalige Burgtheater-Direktorin, treffen. Weil es für ihn praktisch ist, machen wir es uns in den leeren Sträußelsälen an einem Tisch gemütlich – und Peymann legt los:

Ich mache mir große Sorgen um das Theater. Ich glaube, dass wir in eine echte Theaterkrise hineingeschlittert sind. In der Kunst werden das Geld, die Freiheit und die Freude knapp. Und auf der Strecke bleibt die Handwerkskunst des Schauspielens, des Regieführens – und des Theaterleiters. Wahrscheinlich bin ich ja deshalb jetzt hier bei Föttinger in der Josefstadt gelandet! Hier ist noch ein Schauspieler Direktor, hier werden noch Geschichten erzählt – und hier gibt es noch die Leidenschaft für die Sache ...

Heute gilt es ja als Errungenschaft, ein Theater wie einen „ganz normalen Betrieb“ zu führen. Manager dominieren und optimieren den Spielbetrieb, und das auf drei Jahre im Voraus. Aber Theater ist Chaos. Theater ist, wenn man um 10 Uhr auf die Probe geht und sagt: Lasst uns von den Menschen erzählen, von Liebe und Hass, Mord und Totschlag. – Während andere zur Bank gehen oder zum Postamt, haben wir das Glück, gemeinsam die Utopie einer besseren Welt zu erträumen. Theater ist Atem und Herzschlag. Aber das Theater muss im Heute sein. Früher wussten wir im September nicht, was wir im Dezember spielen. Wie auch?

Es gibt so viele Pseudointellektuelle am Theater. Ich kann sie nicht ertragen, diese Leute.

Claus Peymann

Wer weiß schon, wie die Welt wird? Heute macht die Priorität des Planens aus den Theatern eine Art Magistratsabteilung für Kultur. Man will das Risiko raus aus den Theatern haben. Aber Kunst ist Freiheit, Risiko. Pfeif auf Probenzeiten, Wochenenden. Manche reden dann von Ausbeutung. Ich nenne es Hingabe. Wer wirklich Theater machen will, der will die Welt retten. Das geht nicht mit „Work-Life- Balance“. Ich konnte das nie unterscheiden: Meine Arbeit war immer mein Leben. Zum Glück.

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Claus Peymann macht sich Sorgen
Claus Peymann grübelnd zwischen den Reihen im Theater in der Josefstadt.

Foto: David Payr

Ein Gegenargument wäre: Gerade in Zeiten wie diesen braucht es mehr Unterhaltung.

Das sind die Thesen der Operetten-Heinis, aber da unterschätzen Sie das Publikum. Theater ist doch viel mehr! Gehen Sie einmal in die Kammerspiele, und sehen Sie, wie Bernhard Schir in Ionescos „Der König stirbt“ gegen das Sterben und den Tod anspielt – da wackeln die Wände! Zum Lachen und Weinen! Durchs Spielen überwinden wir unsere tiefsten Ängste. Das ist natürlich aberwitzig, dass wir uns in einen abgedunkelten Raum begeben – und wie die Kinder losspielen! Aber es ist das größte Glück, für die, die spielen – und die, die an diesem Spiel teilnehmen: die Zuschauerinnen und Zuschauer. Keine Pest hat verhindert, dass weiter Theater gespielt wird, weil Theater Teil der menschlichen Natur ist. Nur plötzlich hat Corona den Spießern und Stadtkrämern gezeigt, dass Theater scheinbar entbehrlich ist – ein Trugschluss! Darin liegt die Gefahr.

Aber sind daran nur die anderen schuld?

Hmmm – Theater besteht ja aus der Lüge: Ich bin der Schauspieler XY, aber jetzt werde ich zum Mörder – oder zur Mörderin ... Jede und jeder kann alles sein! Dieses Verzaubern, diese Behauptung – die vermisse ich heute oft. Diese permanente Originalitätssucht, das ist eine gefährliche Krankheit, noch gefährlicher als Corona.

Ich behaupte: Würde es mehr neue gute Texte geben, würde es weniger Originalitätssucht geben.

Ja, wir müssen die ureigenste Kraft des Theaters wieder entdecken, die Literatur und die Spieler. Das ist unser größtes Kapital. Es ist auch ein Problem, dass große Autorinnen und Autoren gar keine Lust mehr haben, fürs Theater zu schreiben, und sagen: Ich möchte mein Stück nicht verunstaltet haben. Ich möchte mein Stück sehen und nicht eine Übermalung. – Das hängt zusammen. Dieses Vertrauen ist zerstört. Wir sind von der Mitte mit unserer Kunst an den Rand gerückt. Und da haben Sie recht, daran haben wir natürlich selbst Schuld, weil wir selbst nicht mehr an uns glauben. Wenn ich mich als Regisseur fürs Stück nicht interessiere, dann sollte ich es besser nicht machen. Warum muss ich Shakespeare übermalen? Um Tantiemen zu kassieren?

Die Geschichten sind verloren gegangen, entweder werden sie aus Originalitätssucht gar nicht erst erzählt oder von vornherein zertrümmert – oder falsch aufgeblasen durch Reiz und Show. Das Theaterhandwerk verschwindet. Die Kraft des Theaters ist nicht zu ersetzen, nicht durch Lichteffekte, Videos, Maschinen, akustische Verstärkung. Sie geht in erster Linie über die Seele und die menschliche Stimme. Schauspielerinnen und Schauspieler sind die Königinnen und Könige des Theaters. Wenn die Happel ihr unbeschreibliches Lachen loslässt, lacht das ganze Haus mit. Dazu braucht sie kein Mikroport.

Ist es auch Hybris, wenn Menschen glauben, einen Shakespeare oder Bernhard umschreiben zu müssen?

Eben! Wir nähern uns langsam an, wir zwei. (Lacht.) Es gibt unabänderliche Voraussetzungen, Grundkonstellationen beim Theater: dass Menschen vor anderen Menschen spielen – und mit denen, die zuschauen, gemeinsam lachen, weinen und erschrecken, ja, zu einer Erkenntnis kommen. Wenn das außer Kraft gesetzt wird, dann bleibt nichts mehr übrig. Ich habe bei „Heldenplatz“ das erste Mal begriffen, wie ein Stück die Lüge einer ganzen Nation aushebeln kann. Eine scheinbar einfache Familiengeschichte – und plötzlich war klar: Wir Österreicher sind keine Opfer, wir haben uns genauso schuldig gemacht.

Wer wirklich Theater machen will, der will, die Welt retten. Pfeif also auf Probezeiten und Wochenenden!"

Claus Peymann
Claus Peymann macht sich Sorgen
Aufschrei aus einer der letzten Reihen. Claus Peymann und wie er mit unserem Fotografen David Payr spielt. Gerade eben haben wir mit Peymann über Wutanfälle am Theater gesprochen: „Ich habe alle möglichen Menschen angeschrien, aber niemals Schauspieler.“

Foto: David Payr

Und jetzt? Was machen wir jetzt mit dieser etwas frustrierenden Erkenntnis?

Wir sollten unseren Beruf, unsere Dichter und Dichterinnen und unsere Schauspielerinnen und Schauspieler mehr lieben!

... sagt Peymann – und schreit bei der nächsten Probe einen Schauspieler nieder ...

Ich schreie Schauspieler nicht nieder, ich bin ja nicht verrückt. Ich schreie aus Verzweiflung, über mich selbst, wenn wir auf der Probe feststecken ... Ich schreie auch einmal einen Techniker an, wenn der Umbau zum zehnten Mal nicht funktioniert, und ich schreie Leute an, die im Parkett die Probe stören. Die schon. Aber doch nicht die Schauspieler! Hätte ich eine Kirsten Dene niedergeschrien, die wäre einfach nach Hause gegangen. Zu Recht.

Meine Tochter ist gerade im vorletzten Semester ihrer Schauspielausbildung – was würden Sie ihr und ihren Kolleg*innen raten?

Sie muss sich selbst finden – und die wahren Hilfen annehmen. Manchmal dauert es lange. Manchmal ist es auch sofort da und schnell vorbei. Es können unendlich viele Ideen von Regisseuren kommen – das Grundsätzliche kommt von den Schauspielerinnen und Schauspielern, aus den Menschen selbst. Auch hier gibt es ein Problem an den Theatern: Die Geldzähler schicken Schauspielerinnen und Schauspieler neuerdings mit 65 in Pension, in den – was für ein schrecklicher Begriff! – „wohlverdienten Ruhestand“. Damit fehlen aber die alten Hasen an den Theatern, diejenigen, die die Geheimnisse des Berufes weitergeben können. Denn den entscheidenden Schritt, den mache nicht ich, sondern den machen die Schauspieler. Sie können – und müssen – das Seiltanzen üben. Wenn der Vorhang aufgeht, ist da der Abgrund: das Publikum. Dann kann das Wunder passieren. Ein außerordentlich erotischer Vorgang! Dieses Lustgefühl: Jetzt spiele ich für euch! – das ist die Droge.

Ist es Magie?

Ja, das ist die Magie. Das ist meine Sehnsucht, dass ich die Voraussetzungen schaffe für diesen Seiltanz – wie die Vögel, die das erste Mal aus dem Nest springen und tatsächlich fliegen! – Schönen Gruß an Ihre Tochter, ich halte ihr die Daumen. Und, ganz wichtig: Sie soll sich von ihrem Vater nicht beeinflussen lassen!

Claus Peymann macht sich Sorgen
„Die Kraft des Theaters geht nicht über Licht und Lautsprecher – sie geht über die Seele und die menschliche Stimme.“ Claus Peymann

Foto: David Payr

Keine Angst, sie hat ihren eigenen Kopf.

Umso besser. Es geht eben um das Wunder der Wandlung, und diese Wandlung ist flüchtig, sie hält nicht lange an. Die Verwandlung des Schauspielers in einen Mörder endet spätestens dann, wenn er in der Pause in der Kantine steht. Wenn er zurück auf die Bühne geht, ist er wieder ein ... Mörder. Das Theater ist ein wunderbarer Ort, weil dort Wunder passieren. Davon bin ich wirklich überzeugt. Vielleicht ist das sogar ein Teil des Geheimnisses meines Erfolges: Die Menschen haben immer gespürt, dass ich das Wunder ernst meine. Das ist das Glück der Dummen, dass die Dummen – und dazu gehöre ich ja eindeutig, ohne Koketterie – an so was glauben können. Das unterscheidet mich von sogenannten Intellektuellen. Es gibt unheimlich viele Pseudointellektuelle und Besserwisser am Theater, es ist fürchterlich. Ich kann sie nicht ertragen, diese Leute. Das Herz ist am Theater viel wichtiger als der Kopf.

Herr Peymann, danke für das Gespräch.

Zur Person: Claus Peymann

Am 7. Juni wurde er 85 Jahre alt. 1937 ist er als Klaus Eberhard Peymann in Bremen zur Welt gekommen. „Geboren bin ich 1968“, sagt er. 1986–1999 war er Burgtheater-Direktor, dann Intendant des Berliner Ensembles. Zuletzt inszenierte er „Der deutsche Mittagstisch“ und „Der König stirbt“ für die Theater der Josefstadt. Bereits 2002 bekam er den NESTROY für sein Lebenswerk.