Eigentlich ist alles wie immer. Es ist kurz vor 18 Uhr, und Peymann hat gerade geruht. Das macht er immer am Nachmittag, damit er die Abendprobe durchsteht, wie er sagt. Die Regielegende ist ein wenig unterzuckert, aber nach einem Keks geht’s wieder.

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„Ich merke ein absolut verstärktes Interesse an Interviews und Fotos. Ich sage mir dann immer: Die bereiten meine Beerdigung vor und ihren Nachruf. Ich frage mich ja schon selbst: Wird es meine letzte Inszenierung? Oder die vorletzte? Vielleicht geht ja noch ein neues Stück – von Handke oder Ransmayr oder… wer weiß… Aber vielleicht haben Sie ja das Glück des letzten Interviews.“

Peymann grinst, und ich sage: „Ja, vielleicht. Und weil wir so lässig drüber reden: Hätten Sie auch einen Titelwunsch für Ihren Nachruf?“

Das findet Peymann richtig lustig: „Ich mach sicher nicht Ihre Arbeit.“

Claus Peymann inszeniert „Warten auf Godot“ an der Josefstadt – mit Bernhard Schir als Wladimir („Ich bin der ideale Regisseur für ihn, und er ist der ideale Schauspieler für mich. Eine späte Liebe.“), Marcus Bluhm als Estragon („Marcus kenne ich ja schon seit seinen Jünglingstagen an der Burg“), Stefan Jürgens als Pozzo (siehe Interview Seite 26), und – frisch aus der Schauspielschule – Nico Dorigatti als Lucky.

Die (fast) ganz ernst gemeinte Frage „Ist ‚Warten auf Godot‘ nicht so etwas wie ‚Pension Schöller‘ für Intellektuelle?“ übergeht Peymann und setzt stattdessen zu einem leidenschaftlichen Plädoyer fürs Theater an:

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„Godot ist wirklich der große Klassiker des modernen Theaters! Und ist schon fast wieder in Vergessenheit geraten. Alle kennen den Titel, aber keiner traut sich. Theaterleute sagen manchmal: ,Ach, das Stück ist so schön, dass es schon wieder langweilig ist.“ Wie bei manchen Menschen: Die sind so schön, dass sie einen schon wieder kaltlassen.

Ich habe das Stück immer wieder gelesen und dachte: Niemals! Das mache ich auf keinen Fall! Aber hier und jetzt, genau jetzt brauchen wir wieder Theater wie dieses: Die Welt ist aus den Fugen. Kriege, Katastrophen, Terror und hilflose Politiker stürzen uns in Ratlosigkeit, Resignation und Einsamkeiten.

Der Pessimismus ist die Botschaft. Dass darüber gelacht werden kann, zeigt die Intelligenz des Stücks.

Claus Peymann

Damit wir nicht durchdrehen, brauchen wir eine andere Sicht, brauchen wieder Freiheit, nicht Sachzwänge. Nachdenken, Innehalten, Staunen, Zuhören, Träumen, Weinen und Lachen – und vor allem eines: die Fantasie. Dann gibt es die Chance, dass wir in all dem Warten – egal auf wen und was – bis zu unserem Tod nie aufgeben, immer wieder aufstehen und immer wieder Menschen bleiben. Niemals vergessen…! ‚Warten auf Godot‘ ist eine Groteske, weil eigentlich nichts passiert – und bewegend zugleich, wenn man begreift, dass in all dem Unsinn das Märchen von Glaube, Hoffnung und Liebe erzählt wird. Hört sich verrückt an, nicht?“

Der Krieg ist eine Krankheit

„Wir brauchen ein Besinnen auf ein Theater, das sich Zeit nimmt, das Raum lässt, das Fragen offen lässt, das nicht klüger ist als wir. Wir brauchen Muße zum Nachdenken und Spinnen. Man hat das Gefühl, der Krieg ist wie eine Infektionskrankheit – wie ein Virus, eine Art Corona ist der Krieg über die Welt hereingebrochen. Überall wird gemordet. Unser Planet wird von uns planmäßig zerstört.

Wir haben mal gehofft, dass diese Gewalt, diese grausame Ausbeutung und Zerstörungswut von der Vernunft der Welt überwunden wird – jetzt ist sie wieder da. Ich habe den Krieg als kleiner Junge noch erlebt. Ich bin erstaunt, dass wir wieder so wahnsinnig dumm sind und dass wir so wenig aus der Geschichte gelernt haben.

Diese erschreckende, fast aussichts-lose Situation macht Gegenwehr erforderlich, und das kann die Kunst.“

Kunst kann Gegenwehr

„Die Kunst hat eine Utopie und einen Auftrag. Wir müssen diesen Auftrag ernst nehmen. Denn das Theater – vielleicht die politischste aller Künste – zeigt Auswege. Im Theater versammeln sich die Menschen, durchleben Furcht und Mitleid und lachen über das Böse. Ich weiß, was Krieg bedeutet, das Herannahen der Flugzeuge, der Bombenalarm. Es gibt nichts Schlimmeres.

Krieg macht Gegenwehr erforderlich – das kann Kunst. Denn Theater bietet einen Ausweg.

Claus Peymann

Wissen Sie, es ist mir wichtig, dass es auch in einem Theatermagazin wie dem Ihren gesagt wird: Es geht nicht darum, dass wir tolle Schauspielerinnen und Schauspieler haben auf der Bühne und interessante Stücke und spektakuläre Inszenierungen … Die Kernaufgabe des Theaters ist es, Stopp! zu rufen und: Schaut genau hin! Und zu fragen: Wollen wir wirklich in einer solchen Welt leben?

Und jetzt ist da dieses Stück ‚Warten auf Godot‘. Zwei Menschen, Estragon und Wladimir, sind an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr weiterwissen. Sie sind im Nirgendwo und warten auf … Wissen wir es? Ist es der Erlöser? Gibt es ihn denn überhaupt?

Auch ich warte auf Erlösung, auf Ret-tung! Aber welche Rettung kann es in dieser Welt geben? Bei Beckett kommen sie zu der enttäuschenden Erkenntnis: Es gibt keine Erlösung. Es gibt den Erlöser nicht. „Wollen wir uns aufhängen?“ „Ja, wir hängen uns auf.“

Dieser Punkt des Suchens, des Wartens – und schließlich der Ernüchterung, dass es keine Erlösung gibt. Es gibt niemanden, der sagt: Es wird wieder alles gut. Man wartet, und es kommt: nichts. Man steht vor einer Tür, und die Tür ist: nicht da. Alles nur eine philosophische Konstruktion.

Diese Aussichtslosigkeit ist die eine Botschaft. Die andere Botschaft ist der Weg, den die beiden gemeinsam gehen. Vielleicht ist der Weg ja das Ziel. Dass darüber gelacht werden kann oder vielleicht sogar geweint – das ist die Intelligenz dieses Textes, die große Leistung dieses Stücks. Hoffentlich schaffen wir das!“

Spielen und entdecken

„Mit ‚Warten auf Godot‘ fängt die europäische Moderne an. Ich nehme den Auftrag an – vielleicht auch vergeblich –, nach einer Lösung zu suchen, nach der Versöhnung, nach dem Frieden, nach einer Gesellschaft, die ‚Stopp!‘ sagt zu dem Niedergang, dem sie ausgeliefert ist.

Jedenfalls haben wir diesen wunderbaren Text, der unserer Arbeit einen Sinn gibt. Wir sitzen ja hier keine zehn Meter von der Probebühne entfernt, und gleich werden wir weiterproben, und ich denke mir: Die Freude, die wir gerade beim Spielen und Entdecken dieses Stückes haben, könnte sich übertragen – auch wenn nur die Hoffnungslosigkeit bleibt, dass wir über den Schrecken und den Untergang und die Aussichtslosigkeit Witze reißen. Kein Zynismus! Auch keine Verzweiflung. Aber Klarheit und Mut. Das ist unsere Kraft. Wir versuchen wach zu sein. Und – wir warten.“

Das Gedankendrama

„Ich habe keine Chance. Du hast keine Chance, darum nutzen wir sie zusammen. Ich habe große Freude, dass ich hier an der Josefstadt arbeiten darf: Ich arbeite mit Schauspielern, die ich sehr mag.

Das Theater ist schön, und Föttinger und mich verbindet dieser unbedingte Glaube an die Kraft des Theaters. Wir respektieren uns nicht nur, wir mögen uns!

Er hat mir hier eine neue Wiener Heimat verschafft. Vor Jahren habe ich mich noch über die Josefstadt lustig gemacht, über das bedeutungsvolle Sprechen und die schicken Kleider und Anzüge. Aber hier und in den Kammerspielen wird gesucht und ausprobiert, und da bin ich gerne mit Godot dabei. Passt doch perfekt!“

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Peymann hat fertig.

Claus Peymann lächelt. Er ist jetzt fertig. Den gesamten Text hat Claus Peymann tatsächlich in einem durch gesprochen, gedacht und damit auch alles gesagt.

Wir reden noch kurz über seinen Zugang beim Regieführen: „Die meisten Regisseure, die ich kenne, sind klüger und gebildeter als ich. Obwohl ich viel gelesen habe – aber im entscheidenden Moment auf der Probe bin ich dumm und staune.“

Ach ja: Sollten Sie Peymann treffen – versuchen Sie Anglizismen zu ver-meiden. Als wir „Warten auf Godot“ einen Blockbuster nennen, zuckt er aus. Ein bisserl ist sicher Inszenierung dabei, aber im Kern meint er es so.

„Diese amerikanischen Ausdrücke finde ich scheiße. Sagen Sie es doch auf Deutsch.“

Wir machen es. Verstolpern uns im Deutsch. Peymann lacht herzlich. Reingefallen.