Warum macht man 2026 noch Theater, Claus Nicolai Six?
Der Regisseur Claus Nicolai Six schreibt in seinem Monolog über das Theater als Ort, an dem Macht und Begehren aufeinandertreffen.
Burgtheater. Theater am Ring. Marmor meets Molton. Sonnabend. Volles Haus. Zwei Jahre war ich Assistent an diesem Haus, mich packt eine Ehrfurcht, wenn ich die Feststiege betrete und auf den Spuren der Theatergeschichte wandle. Auftritt. Erster Stock. Damengang. Ich bin in der Garderobe einer Kollegin. Wir sitzen auf der Fensterbank, unser Blick auf den Rosengarten und die Hofburg, es dämmert. Wir sehen die Wiener Schickeria, hastig vom Ring auf dem Weg ins Theater. Qualmend genießen wir eine Zigarette und diskutieren. Diese Zigarette hat etwas Heiliges, heilig und verboten zugleich. ,Die Vorstellung beginnt in 30 Minuten‘, tönt es durch die Lautsprecheransage. Wir spitzen unsere Lippen an den Zigarettenfiltern und blasen unseren Nikotin-geschwängerten Atem in Richtung Fiaker unten auf der Straße.
Diese Minuten vor der Vorstellung sind Ritual, sind unverzichtbarer Bestandteil, sind Amuse-Gueule, sind Katharsis. In diesen Minuten wird alles und jedes verhandelt: die Probe am Vormittag – die unsägliche –, der letzte Partyexzess, das letzte Tête-à-Tête. Ganze Ehen und mit ihr die Weltpolitik werden hier in den Augenblicken des Innehaltens minutiös durchexerziert.
Ich glaube, es sind Momente wie diese, warum das Theater mein Zuhause geworden ist. Das Theater ist der Ort, wo sich das Menschenleben – das kleine wie das große – auftut. Theater ist der Ort, wo die große Welt bei mir zu Gast ist. Wo Alltag und Eskapismus Hand in Hand gehen. Wo alles verhandelt werden darf.
Wer weiß, ob ich jemals mit Staatshäuptern und Wirtschaftsbossen dinieren werde, aber wenn der Vorhang für ‚Richard III.‘ oder ‚Johann Holtrop‘ aufgeht, dann setze ich mich mit diesen Köpfen auseinander: denkerisch, rechthaberisch, künstlerisch. Meine Kollegin zieht ihren schwarzen Lidstrich nach, rötet ihre vollen Lippen. Das Bild der Diva ist perfekt. In welche Welt sie heute Abend wohl tauchen wird?
Ich. Theaterkind. Kaleidoskop. Ich bin fasziniert: Ich fühle mich ganz klein. ,Fünf Minuten bis Beginn, bitte Vorhang und Plüsch besetzen …‘
Unsere Zigarette muss sich zu Ende neigen, ich erzähle fiebrig von meinem Debüt an der Burg: ‚Lecken 3000‘ – der Titel ist Provokation, schonungslos, unverfroren. An welchem Ort sonst tritt das Leben so fulminant auf?
An welchem Ort sonst verhandeln wir Begehren und Macht? ,Wo Begehren ist, da ist Macht und wo Macht ist, da ist Gewalt und wo Gewalt ist, da ist Erotik‘, heißt es später im Stück. Ich mag diesen Widerspruch. Ich mag, dass ich am Theater herausgefordert werde: geistig, ästhetisch, sinnlich. Wenn auch nur für einen Abend.
Und so ist die Tschick Sinnbild für mich geworden: Gutes Theater schmeckt wie eine gute Zigarette auf der Fensterbank: vergänglich, anrüchig, ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber vor allem: nach Stil.