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Sebastian von Lagiewski während der Probenphase mit den Masken aus der Kostümwerkstätte des TdJ.

Sebastian von Lagiewski während der Probenphase mit den Masken aus der Kostümwerkstätte des TdJ.
Foto: Petra Rautenstrauch

Der überaus starke Willibald: Es ist zum Mäusemelken!

Theater der Jugend

Die Mäuse in Sebastian von Lagiewskis Bearbeitung des bekannten Kinderbuchs „Der überaus starke Willibald“ sind alles andere als „mausig“. Mit seiner starken Kritik an totalitärer Politik passt der Text – tragischerweise – perfekt in unsere Zeit.

Mausig. Das momentan auf sämtlichen sozialen Plattformen omnipräsente Adjektiv, das so viel wie „süß“ bedeutet, wird beim Fotoshooting mit dem Regisseur und Dramaturgen Sebastian von Lagiewski etwas anders ausgelegt. Und zwar ist das mit der Auslegung durchaus wörtlich zu verstehen, denn schon liegen sechs Mäuseköpfe neben Lagiewski, der auf dem Boden der Probebühne des Theaters der Jugend sitzt. Nur um es kurz festzuhalten: Natürlich handelt es sich nicht um echte Köpfe, sondern um sechs Masken, die die Maskenabteilung des Theaters für seine Produktion mit dem Titel „Der überaus starke Willibald“ angefertigt hat. Halb Fabel, halb Parabel zeigt die Geschichte, wie sich eine Gruppe von Mäusen von einem scheinbar starken Anführer zu bedingungslosem Gehorsam verführen lässt. Aus Angst vor einer erfundenen Gefahr, in Gestalt einer Katze, schwingt sich Mäuserich Willibald zu einem autokratischen Führer auf. Die Redewendung „Nur mit Speck fängt man Mäuse“ könnte man in Zusammenhang mit der Erzählung also in „Nur mit Angst fängt man Mäuse“ abwandeln.

„Je früher man ein Bewusstsein dafür schafft, wie Autokratie und totalitäre Herrschaft funktionieren, desto besser“, so Sebastian von Lagiewski.
Foto: Petra Rautenstrauch
„Je früher man ein Bewusstsein dafür schafft, wie Autokratie und totalitäre Herrschaft funktionieren, desto besser“, so Sebastian von Lagiewski.

Schon lange in der Schublade

Kopflos – natürlich nicht im übertragenen Sinn, sondern wortwörtlich gemeint – begeben wir uns nach dem Fotoshooting in ein Kaffeehaus, um über das Stück, das auf einem 1983 erschienenen Kinderbuch basiert, zu sprechen. Die Angst vor Verkopftheit, die bei Interviews mit Dramaturgen immer ein bisschen mitschwingt, löst sich rasch in Luft auf. Wir bestellen zwei Verlängerte – und dann legt Sebastian von Lagiewski los: „Wir haben das Stück schon seit einigen Jahren in unserer Schublade liegen. In diesem Jahr passt es perfekt zum Spielzeitmotto und tragischerweise auch perfekt in die Zeit. Der Text setzt sich explizit mit dem nationalsozialistischen Regime auseinander – wie auch mit den Mechanismen, die totalitäre Politik und Autokratie ermöglichen.“

Obwohl sich Willi Fährmann, der Autor der Kinderbuchvorlage, stark am Nationalsozialismus abarbeitet, sind eindeutig nachvollziehbare Parallelen zur heutigen Zeit vorhanden, fügt der Regisseur mit ruhiger Stimme hinzu. „Man schlägt das Buch auf und kann darin auch Wladimir Putins oder Donald Trumps Werdegang erkennen“, findet Sebastian von Lagiewski klare Worte. „Gleichzeitig werden diese Dinge auf eine Weise heruntergebrochen, dass sie auch für Sechsjährige verständlich sind. Und wir haben uns auch bewusst dagegen entschieden, tatsächlich existierende Persönlichkeiten zu karikieren, um das Stück von einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort loszulösen.“ So ein Mäusebau kann schließlich überall auf der Welt sein, hält er fest und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. „Es geht natürlich auch um Mobbing und Ausgrenzung, um In-Groups und Out- Groups – um all diese Dinge, die auch in Kindergärten oder Schulen stattfinden.“

Wehret den Anfängen!

Gemeinsam mit der Kostümbildnerin Irmgard Kersting hat sich Sebastian von Lagiewski außerdem dazu entschieden, dass seine Mäuse alles andere als süß – und mausig – aussehen sollen. In ihren Kostümen spiegelt sich ihr ambivalentes Verhalten wider. „Ich bin davon überzeugt, dass man auch Sechsjährigen solche komplexen Sachverhalte zumuten kann, wenn man sie kindgerecht aufbereitet. Natürlich werden Fragen auftauchen, doch das Schöne am Theater ist ja unter anderem, dass man Dinge mitnimmt, über die man nach dem Theaterbesuch mit anderen Menschen sprechen kann.“

Außerdem hat er keinerlei Zweifel daran, dass das junge Publikum nicht versteht, wem Unrecht angetan wird, betont der Regisseur, der auch die Fassung geschrieben hat. „Kinder in diesem Alter haben ein untrügliches Gerechtigkeitsempfinden. Sie sind kompromisslos empathisch.“ Zum Zeitpunkt des Gesprächs steckt der Regisseur noch mitten in den Proben für das Stück. Die Frage nach den größten Herausforderungen beantwortet er folgendermaßen: „Wir arbeiten gerade sehr an der Körperlichkeit, vor allem daran, wie es uns gelingen könnte, ohne Verniedlichung immer wieder animalische Züge durchscheinen zu lassen.“ Darüber hinaus ist es sein Anspruch, trotz der Dringlichkeit und des durchaus komplexen Themas, hoffnungsvoll zu bleiben und den Humor nicht zu verlieren. „Gerade für eine Weihnachtsproduktion sei das eine große Herausforderung“, merkt er lachend an. „Aber je früher man ein Bewusstsein dafür schafft, wie Autokratie und totalitäre Herrschaft funktionieren, desto besser, finde ich. Wehret den Anfängen!“

Auge in Auge mit Maus Lili. Die Masken für „Der überaus starke Willibald“ wurden von der Kostümabteilung des Theaters angefertigt.
Foto: Petra Rautenstrauch
Auge in Auge mit Maus Lili. Die Masken für „Der überaus starke Willibald“ wurden von der Kostümabteilung des Theaters angefertigt.

Maßstabsgetreue Mäusewelt

Sebastian Pass wird Willibald spielen. An dem in Wien geborenen Schauspieler schätzt Sebastian von Lagiewski unter anderem seinen Humor, seine konstruktive Art in der Probenarbeit und seine wahnsinnige Präsenz. Er möchte aber eigentlich gar niemanden herausheben, weil das Ensemble als Ganzes unglaublich „toll, herzlich und mitdenkend“ ist, wie er nach einer kurzen Pause hinzufügt. Das Bühnenbild von Ulv Jakobsen zeigt eine maßstabsgetreue Mäusewelt – es gibt überdimensionale Dosen und Regale. Der Realismus des Bühnenbilds ermögliche es, in den Kostümen wie auch in den Bewegungen ein wenig abstrakter zu agieren, so der Regisseur, der seit 2012 alle Abteilungen des Theaters der Jugend durchwandert hat, 2018 aber in der Dramaturgie „picken blieb“.

„Der überaus starke Willibald“ ist seine erste Regiearbeit. Das Stück wird im Übrigen auch in den Weihnachtsferien zu sehen sein: Zum allerersten Mal zeigt das Theater der Jugend – am 27. Dezember – eine Ferienvorstellung. An der Dramaturgie schätzt er, dass jede Produktion anders ist. „Es fühlt sich fast so an, als hätte man alle sechs bis acht Wochen einen neuen Job“, sagt er lachend. Ein subjektives Highlight aus 15 Jahren am Theater der Jugend möchte er nicht herauspicken. In jeder Produktion hätte es Momente gegeben, in denen ihm das Herz aufgegangen ist. Der Zeit nach dem Intendanzwechsel blickt er ziemlich entspannt entgegen. Von Verkopftheit auch hier keine Spur. Bevor wir uns verabschieden, möchten wir noch von Sebastian von Lagiewski wissen, ob es ein Erlebnis gab, in dem sich sein Theaterfieber nachhaltig entzündet hat. Er nickt. „Ich weiß es noch ganz genau. Das war ein Stück von Robert Wilson am Thalia Theater. Da habe ich etwas erlebt und gesehen, das ich noch nie zuvor gesehen habe.“ Unsere Wege trennen sich wieder. „Aus die Maus“, könnte man auch sagen. Für Sebastian von Lagiewski gilt das natürlich nicht. Er geht noch schnell zum Supermarkt, bevor die Abendprobe losgeht.

Zum Stück
Willi Fährmanns 1983 veröffentlichte Fabel beginnt mit der Schilderung eines Mäuseidylls – es wird gefressen, geschlafen und gespielt. Doch eine Maus ist besonders hungrig. Und zwar nicht nur nach Brotkrümeln, sondern auch nach Macht. Willibald erfindet eine Gefahr und nutzt die Angst des Rudels, um seine Macht immer weiter auszubauen. Nur Albinomaus Lili, die aufgrund der Färbung ihres Fells zur Feindin des Rudels erklärt wird, durchblickt die Situation. Auf kindgerechte Weise arbeitet sich Fährmanns Text zwar eindeutig am Nationalsozialismus ab, lässt sich aber auch in die Gegenwart übertragen.

Erschienen in
Bühne 10/2025

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Sarah Wetzlmayr
Sarah Wetzlmayr
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