Volkstheater 2025/26: Entweder und oder
Jan Philipp Gloger möchte ganz Wien mit offenen Armen in seinem Haus empfangen und setzt dabei auf Humor, Haltung und Nahbarkeit. Und auf ein Programm, das die Menschen nicht nur abholt, sondern sie gleichzeitig auch woanders hinbringt. Beispielsweise in die visionären Welten Jura Soyfers.

Foto: Marcel Urlaub
Spürst dich noch oder spürst dich nicht mehr? Angesichts der nur einjährigen Vorbereitungszeit und des intensiven Interviewmarathons, den Jan Philipp Gloger in den letzten Tagen hingelegt hat, würde man eher Letzteres vermuten. Doch der neue Künstlerische Direktor des Volkstheaters schüttelt den Kopf und lacht. „Ich spüre mich sogar sehr gut, weil ich gerade probe und die Zeit auf der Probebühne immer gut verbrachte Lebenszeit ist“, erklärt der Neo-Wiener und legt das frisch gedruckte Spielzeitbuch vor sich auf den Tisch.
Auf der Vorderseite ist das neue Logo des Volkstheaters zu sehen, auf der Rückseite die bereits erwähnte Frage „Spürst dich noch?“, die vielmehr Gesprächsanlass als Spielzeitmotto sein soll, wie Gloger betont.
Weil der 1981 geborene Theatermacher ein Mensch zu sein scheint, der sich in Extremen wohler fühlt als am sogenannten gesunden Mittelweg, ist davon auszugehen, dass sich Jan Philipp Gloger auch in etwas weniger arbeitsintensiven Lebensphasen ganz gut spürt. Eng damit verbunden ist seine tiefe Überzeugung, dass Theater lustvoll und zugänglich, zugleich aber auch kunstvoll und hoch- komplex sein kann. Kurz: so paradox und lebendig wie das Leben selbst.
„Geht sich das aus?“, könnte man jetzt mit der für Wien typischen Skepsis fragen. Der neue Künstlerische Direktor des Volkstheaters ist mehr als bereit, mit seinem vielfältigen Programm zu beweisen, dass „Na fix!“ – und nicht „Schau ma mal“ – die richtige Antwort auf diese Frage ist. Konkret bedeutet das, dass es in der kommenden Spielzeit sowohl eine wahnwitzig schnelle Komödie vom Londoner Westend („Komödie mit Banküberfall“) als auch radikale Regiezugriffe geben wird. In der Vielfalt seines ersten Wiener Programms liegt für Gloger die große Chance, Gemeinschaft zwischen sehr unterschiedlichen Menschen zu stiften. Und: sie nicht nur abzuholen, sondern sie im gleichen Atemzug auch woandershin mitzunehmen.
Beispielsweise ins Jahr 2035. Wie wir auf diese Jahreszahl kommen, ist schnell erklärt: In seiner Eröffnungsproduktion mit dem Titel „Ich möchte zur Milchstraße wandern!“ verbindet Jan Philipp
Gloger mehrere Texte des Dramatikers Jura Soyfer, der im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren im Konzentrationslager Buchenwald an Typhus verstarb, zu einemTheaterabend. In einem dieser Text geht es um eine Schulklasse im Jahr 2035, die ohne jegliches Geschichtsbewusstsein aufwächst. „Beim Lesen der Texte hatte ich das Gefühl, Jura Soyfer hat die Probleme unserer heutigen Zeit voraus- gesehen“,hält Gloger fest.„14 Prozent der jungen Menschen wissen nicht mehr, was der Holocaust ist. Soyfer schreibt zudem über Wissenschaftsskepsis und die Gefahren rechter Politik. Gleichzeitig steckt in seinen Texten sehr viel Witz, und es gibt immer auch Momente der Hoffnung.“
Das Volkstheater-Ensemble
Humor, Haltung und Nähe
Humor sei ohnehin eine der drei zentralen Säulen seiner Leitung, erklärt er im Interview, das zwei Tage vor der Spielplanpräsentation stattfindet. „Lachen kann gemeinschaftsbildend und politisch sein. Es bringt Menschen auch deshalb zusammen, weil man plötzlich nicht nur sich selbst besser spürt, sondern auch die Menschen um einen herum.“ In Nürnberg, wo er bis zum Ende der Saison noch Schauspieldirektor ist, habe er sich manchmal in die Tonloge gesetzt und das Publikum beobachtet, erzählt er.
„Da wurde mir die gemeinschaftsbildende Kraft, die dem Lachen innewohnt, so richtig bewusst. Oft hat es sich wie ein Strom durchs Publikum ausgebreitet.“
Eine weitere wichtige Säule sei die Nähe zu den in der Stadt lebenden Menschen - egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben. „Wir wollen wirklich in die Stadt hineingehen“, sagt Gloger, der während der einjährigen Vorbereitungszeit – und auch schon davor – dasselbe tat.„Ich war schon immer mehr in Wien als in Berlin“, hält er lachend fest. Außerdem möchte er ein Haus leiten, das auch in Zukunft politisch klare Kante zeigt. Vielleicht etwas weniger aktivistisch als das unter Kay Voges der Fall war, auf jeden Fall aber in den Theaterproduktionen.
„Gleich in den ersten beiden Produktionen, in ‚Ich möchte zur Milchstraße wandern!‘ und in ‚Caché‘, untersuchen wir auf sehr unterschiedliche Weisen den Nährboden von Ausgrenzung und Rechtsruck.“
Die Anbindung an die österreichische Hauptstadt drückt sich sowohl in den Stücken als auch im Personal aus. Elf der insgesamt zwanzig festen Ensemblemitglieder leben in Wien oder haben schon einmal in Wien gelebt. Und auch viele der Regisseur*innen haben einen Bezug zur Stadt – u.a. Hausregisseurin Rieke Süßkow, aber auch Martina Gredler oder Anna Marboe.
Gezeigt wird unter anderem Schnitzlers in Wien spielende „Traumnovelle“ oder die Uraufführung „Mythen des Alltags“, eine Koproduktion mit den Wiener Festwochen, die die Menschen aus Wien zu den Urheber*innen ihres eigenen Mythos werden lässt. Das Volkstheater in den Bezirken möchten die beiden Kuratorinnen Anja Sczilinski und Julia Engelmayer partizipativ gestalten. Geplant sind, neben sechs Theaterproduktionen, auch Schreibworkshops, Gesprächsreihen und Grätzlfeste.
Das Volkstheater-Ensemble
Und die Dunkelkammer? Bleibt sie Experimentierfeld für junge Theatermacher*innen? „Die Dunkelkammer hat einerseits diesen Laborcharakter, andererseits ist sie ein unglaublich intimer Raum, der eine große Nähe zwischen Spieler*innen und Publikum ermöglicht. Ich freue mich, dass wir unter anderem den gerade sehr gefragten Regisseur Ran Chai Bazvi für die Dunkelkammer gewinnen konnten“, beantwortet Jan Philipp Gloger die Frage nach dem Reiz des kleinen halbkreisförmigen Raumes unter dem Dach des Theaters.
Dass mehr als 50 Prozent der Stücke von weiblich gelesenen Personen inszeniert werden, ist kein Zufall, wie der neue Künstlerische Direktor betont. „Ich habe das so festgelegt. Das Ziel ist, irgendwann keine Quote mehr zu brauchen, aber momentan brauchen wir sie noch.“
Zwischen Auslieferung und Reflexion
Was das Theater, seiner Meinung nach, auch dringend braucht, sind Geschichten und Verwandlungen. „Ich darf mich identifizieren, ich darf mitfühlen und mich spüren, gleichzeitig wird mit offenen Karten gespielt. Das bedeutet, dass ich als Zuseher verzaubert werde, ich mir aber auch dabei zuschauen kann, wie das passiert. Es ist ein Hin- und Herspringen zwischen Auslieferung und Reflexion, und genau das liebe ich am Theater“, zeigt sich der 43-Jährige von seiner Kunstform begeistert.
Begeisterung setzte auch sofort ein, als er gefragt wurde, ob er sich für das Volkstheater bewerben möchte. „Da gab es überhaupt keine Zweifel“, so Gloger. Ein paar warnende Worte drangen im Vorfeld zwar an sein Ohr, aber auch sehr viel begeisterter Zuspruch.„Letztendlich haben Bauch und Herz entschieden“, so der nach eigenen Angaben „austrophile“ Theatermacher, der hinzufügt, dass ihn die Begeisterung, mit der seine drei ersten Wiener Produktionen aufgenommen wurden, zusätzlich in seinem Mut bestärkt habe.
Dass das Theater in Wien sehr emotional aufgeladen ist, sei ihm ebenso bewusst wie die Tatsache, dass sich die Wiener*innen gern in ihre Schauspieler*innen verlieben. „Ich kann das sehr gut nachvollziehen und hoffe, dass die Menschen in der Stadt diesem großartigen Ensemble ein bisschen Zeit geben, um sich in ihre Herzen zu spielen. Wir wollen und können – allein aufgrund der Größe des Ensembles – kein Haus der Stars sein, dafür wird man diese talentierten und unglaublich vielseitigen Spieler*innen in vielen und sehr unterschiedlichen Stücken zu sehen bekommen.“
Bei der Auswahl des Ensembles – sechs Spieler*innen bleiben, fünf kommen aus Nürnberg mit nach Wien und neun aus anderen Häusern – spielte auch die Musikalität eine wichtige Rolle. „Erst neulich kam ich nach einer Probenpause zurück und habe gesehen, wie fünf Spieler*innen aus meiner Eröffnungsproduktion an zwei Klavieren saßen und frei improvisiert haben. Das war ein wunderschöner Moment, in dem ich gemerkt habe, welche Kraft Musik hat, wenn es darum geht, etwas wachsen zu lassen.“
Das Volkstheater-Ensemble
Dass Gloger selbst eine Zeitlang als Keyboard-Alleinunterhalter unterwegs war, sich später aber auch am Komponieren von Zwölftonmusik versuchte, unterstreicht einerseits die Musikalität des neuen Volkstheater-Leiters, zeigt andererseits aber auch einmal mehr, dass definitiv mehr als zwei Herzen in seiner Brust schlagen. Welcher Beat dabei entsteht, werden wir in Zukunft sehen. Er kann von der Popmusik seiner Jugend in Hagen, das kurze Zeit als Liverpool Deutschlands galt, ebenso beeinflusst sein wie von großer Oper.
„Komm nach Hagen, werde Popstar, mach dein Glück!“ lautet im Übrigen ein eng mit seiner Geburtsstadt verbundener Spruch. Jan Philipp Gloger wollte aber lieber Theater machen, als Popstar zu werden, und ging zuerst nach Gießen zu Heiner Goebbels, wo er direkt im Herzen der Postdramatik landete, dann weiter zum Studieren nach Zürich, zu Dieter Dorn ans Münchner Residenztheater, 2018 nach Nürnberg und nun als Theaterleiter nach Wien. Nie auf dem Mittelweg, sondern immer ein bisschen seitlich davon. Und immer mit vielen gleichzeitig schlagenden Herzen in seiner Brust. Entweder oder? Langweilig. Entweder und oder, so lautet die Devise.

Kay Voges: Er kam, sah und suchte
Wie fühlt es sich an, ein Spiel abzupfeifen, das gerade erst so richtig Fahrt aufgenommen hat? Darüber haben wir mit Kay Voges gesprochen. Und davor noch den Ausblick auf jene Stadt genossen, auf die er schon bald zurückblicken wird. Weiterlesen...
Premieren
Ich möchte zur Milchstraße wandern! „Weltuntergang“, „Astoria“, „Vineta“ und andere Texte
12. 9. 2025, Volkstheater
Pseudorama – eine zu 99!% analoge virtuelle Realität
13. 9. 2025, Dunkelkammer
Caché
14. 9. 2025, Volkstheater
The Boys Are Kissing
2025. 9. 2025, Volkstheater
Halbe Leben
26. 9. 2025, Bezirke
Die total verjüngte Oma oder Mister Bats Meisterstück
27. 9. 2025, Bezirke
Komödie mit Banküberfall
17. 10. 2025, Volkstheater
Traumnovelle
31. 10. 2025 Volkstheater
Ödipus Tyrann
14. 11. 2025, Volkstheater
Die Räuber
28. 11. 2025, Bezirke
King Kong Theorie
4. 12. 2025, Dunkelkammer
Geschichten aus dem Wiener Wald
12. 12. 2025, Volkstheater
Ukrainomania – Revue eines Lebens
15. 1. 2026, Volkstheater
State of the Union – Eine Ehe in 10 Sitzungen
13. 2. 2026, Bezirke
Liv, Love, Laugh Strömquist
20. 2. 2026, Volkstheater
FOMO – Liebeserklärung an die Angst unserer Zeit
5. 3. 2026, Dunkelkammer
Das tragische Schicksal der Sonate Nr.!2
15. 5. 2026, Bezirke
Mythen des Alltags
16. 5. 2026, Volkstheater