Theater der Jugend: Wer hat den längeren Schatten?
Während sich der zwölfjährige Adam zusehends zur Lichtgestalt des Schulhofs aufschwingt, treibt sich Atticus eher im Schatten seines Zwillingsbruders herum. Bis er einen ausgefuchsten Plan entwickelt und schließlich erkennt: Er ist gut so wie er ist.
Egal wie sehr er sich verbiegt und in welche Richtungen er sich neigt, Atticus steht durchgehend im Schatten seines zwei Minuten älteren Zwillingsbruders Adam. Obendrein ist dieser Schatten, davon ist der jüngere Bruder überzeugt, auch noch deutlich länger als sein eigener. „Aus irgendeinem Grund, selbst wenn da nichts Äußerliches ist, kann ich sehen, dass er größer ist als ich – vom Wesen her. Und unsere Schatten beweisen das. Es ergibt keinen Sinn – aber es ist einfach so“, beschreibt Atticus die Situation, die zwar jeder Logik entbehrt, sich aber, wenn es nach ihm geht, schlicht und ergreifend so darstellt. Die eben in aller Kürze beschriebenen Zwillingsbrüder stammen aus dem Stück „Der Junge mit dem längsten Schatten“ von Finegan Kruckemeyer, das Gerald Maria Bauer mit den beiden Spieler*innen Mino Dreier und Una Nowak im Theater im Zentrum auf die Bühne gezaubert hat. Während es Atticus nicht gelingt, aus dem Schatten seines Bruders herauszutreten, treibt sich Adam stets auf der Sonnenseite des Lebens herum – er ist bei den Mitschüler*innen beliebt, fährt BMX-Rad und baut Schlachtschiffe aus Lego.
Keine Angst vor Klischees
„Atticus versucht unentwegt diese zwei Minuten Altersunterschied aufzuholen, indem er verschiedene Pläne entwickelt. Natürlich probiert er zunächst einmal, sich in eine Kopie seines Bruders zu verwandeln. Doch keine seiner Strategien geht auf“, fasst Gerald Maria Bauer das Stück zusammen. Lange sei es auf seinem Schreibtisch gelegen, erzählt der Regisseur und Chefdramaturg des Theaters der Jugend. „Als ich Mino Dreier und Una Nowak kennenlernte, wusste ich sofort, dass nun die Chance gekommen ist, dieses Stück zu machen.“ Gerald Maria Bauer gerät ins Schwärmen, wenn er von der Arbeit mit den beiden Spieler*innen spricht. „Uns ist bei dieser Arbeit sehr viel zugeflogen. Es waren unglaublich fokussierte Proben, die sehr viel Spaß gemacht haben“, resümiert der Theatermacher. Letzteres dürfte auch der Hauptgrund dafür sein, warum Gerald Maria Bauer auch wenige Stunden vor seiner Premiere noch absolut ruhig und besonnen wirkt. Wir sitzen in seinem Büro in der Neubaugasse, draußen kämpfen sich gerade die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch die dicke Wolkendecke.
Wie sehr braucht man andere, um sich selbst zu finden?
Gerald Maria Bauer erkennt darin die Kernfrage des Stücks
Wir kommen noch einmal auf das Stück zurück. Gerald Maria Bauer rückt seine Brille zurecht und ergänzt: „Wir begegnen in diesem Stück zwei Zwölfjährigen. Das ist ein Alter, in dem sich junge Menschen vermehrt darüber Gedanken machen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Es geht daher vor allem um die Frage, wie sehr man andere braucht, um sich selbst zu finden. Wobei man auch als Erwachsener nicht vor diesen Fragen gefeit ist. Das habe ich bei den Voraufführungen gemerkt.“ Als Regisseur schreckt Bauer auch nicht vor jenen Klischees zurück, die sich bei dieser speziellen Figurenkonstellation unweigerlich aufdrängen. „Wir begegnen diesen Klischees mit viel Humor und Selbstironie“, hält er fest und ergänzt, dass ihn noch nie ein Mensch begegnet ist, der nicht hin und wieder in Schubladen denkt. „Die Frage ist, wie man damit umgeht“, bringt er seinen Gedanken zu Ende.
Berührungspunkte schaffen
Für Jugendliche ab 11 zu inszenieren sei auch deshalb herausfordernd, weil es eine sehr inhomogene Altersgruppe ist, erläutert Bauer. „Dazu kommt, dass sie keine Kinder mehr sind, aber auch noch keine Erwachsenen. Durch diese sowohl psychisch als auch physisch schwierige Phase ergibt sich eine Ernsthaftigkeit und Ironiefreiheit, die man bei Theaterarbeiten für diese Altersgruppe mitberücksichtigen sollte.“ Wir kommen noch einmal zu Finegan Kruckemeyers Stück zurück. Gerald Maria Bauer hofft, eine Inszenierung geschaffen zu haben, die den emotionalen Haushalt der Jugendlichen berührt. „Vielleicht tauchen danach Fragen auf, die sie auch schon hatten, die sie sich aber noch nie bewusst gestellt haben, weil ihnen der Mut dafür gefehlt hat. Theaterstücke sind ja letztendlich immer Gesprächsangebote und ästhetische Erfahrungen, keine angewandte Pädagogik. Es geht nicht darum, den Jugendlichen eine bessere, schönere Welt zu zeigen, sondern gesellschaftliche Vorgänge transparent zu machen. Theater für Kinder und Jugendliche ist daher immanent politisch.“
Im Zwiespalt
Einen Tag vor der Premiere treffen wir Una Nowak und Mino Dreier im Theater im Zentrum. Sie tragen Anzüge und Krawatten, von Aufregung keine Spur. Nach dem Ensemblestück „Funken“ ist „Der Junge mit dem längsten Schatten“, bei dem sie nur zu zweit auf der Bühne stehen, ihre zweite gemeinsame Arbeit. Das bringt natürlich eine Reihe an Vorteilen mit sich, merkt Una Nowak an. „Wir verstehen uns oft ohne Worte. Ich weiß, wie Mino auf der Bühne klingt, ich kenne seine Körperlichkeit auf der Bühne und weiß, wie spontan er sein kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht mehr neugierig aufeinander sind.“ Mino Dreier nickt und fügt hinzu: „Dass wir dieses Stück zu zweit machen können, ist wirklich eine Luxussituation. Alles ging total schnell.“ Der 22-jährige Schauspieler spielt den zwei Minuten jüngeren Atticus, dem er eine gewisse Ambivalenz zuschreibt. „Er merkt, dass die Interessen seines Zwillingsbruders gut ankommen, gleichzeitig hat er seine eigenen Hobbies, die er an sich nicht abwertet, die ihn allerdings zum Einzelgänger machen. Daraufhin beginnt er, sich zu fragen, ob nicht doch er das Problem ist, obwohl ein Teil von ihm auch weiß, dass seine Interessen ebenfalls einen Wert haben. In diesem Zwiespalt bewegt er sich.“ Eine Schlüsselstelle hat Mino Dreier, der sehr reflektiert und offen über seine Arbeit spricht, auch schon für sich herausdestilliert: „Es wird sich immer ändern. Es ist einfach, dass die Zeit vergeht – das ist alles.“
Dickhäutig durchlässig sein
Wir sprechen auch darüber, welche Folgen andauerndes Vergleichen haben kann und welche Rolle dieses Thema in der Welt der Schauspielerei spielt. „Eine sehr große“, sind sich die beiden Spieler* innen einig. „Der große Unterschied zu vielen anderen Berufsfeldern ist, dass wir einen extrem persönlichen Bezug zu unserer Arbeit haben. Ich stehe mit meinem Körper auf der Bühne und interpretiere die Rolle so, wie ich sie sehe. Man hat ständig mit Vergleichen zu tun und auch damit zu kämpfen. Sich davon abzugrenzen will auf jeden Fall gelernt sein. Es schadet auch nicht, sich eine dickere Haut zuzulegen, gleichzeitig muss man für den Beruf aber auch dünnhäutig und durchlässig sein“, findet Una Nowak klare Worte. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs steht das Absolvent*innenvorsprechen der MUK, wo Una Schauspiel studiert hat, unmittelbar vor der Tür. Mino Dreier lauscht Unas Worten und ergänzt: „Das klingt jetzt wie der absolute Klischeesatz, aber es ist einfach so, dass eines unserer wichtigsten Werkzeuge unser Vertrauen in uns selbst ist. Ich habe ein eher distanziertes Verhältnis zu Idolen und Vorbildern, weil ich davon überzeugt bin, dass man nur dann gut in diesem Beruf sein kann, wenn man die Dinge findet, die einen selbst ausmachen. Andere Leute können natürlich trotzdem eine Inspiration sein.“
Womit wir auch schon wieder mitten in der Thematik des Stücks gelandet sind. Beim Fotoshooting gab es im Übrigen durchaus Situationen, in denen eine*r der beiden Spieler*innen mehr im Schatten des*der Kolleg*in stand, doch das hatte klarerweise ausschließlich ästhetische Gründe. Wir verabschieden uns und wünschen „Toi, toi, toi!“ für die Premiere. Bevor sich unsere Wege wieder trennen, fragen wir noch schnell nach etwaigen Premierenritualen. „Ich mag es sehr, mir schon ein Outfit für danach zurechtzulegen. Mir zu überlegen, ob darin etwas von der Figur stecken soll oder ob ich es auf Kolleg*innen abstimmen möchte“, so Una Nowak. „Das finde ich auch toll“, teilt Mino Dreier die Freude von Una. „Unmittelbar vor der Premiere denke ich auch gerne daran, wie viele Freund*innen im Publikum sein werden. Zu spüren, dass sie schon da sind, ist für mich eines der schönsten Gefühle am Premierentag.“