Die Tür ist gut gesichert. Oben ein Schloss, in der Mitte und unten noch eines, dazu ein Querbalken und ein schwarzes Metallgitter, das sich über die gesamte Innenseite zieht. Wien-Alsergrund, Berggasse 19.

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Herzlich willkommen in der Wohnung von Sigmund Freud und bei jener Tür, die demnächst eine Rolle in der Neuinszenierung von „Turandot“ bekommen wird. Regisseur Claus Guth: „Ich versuche, in jedem Stück einen urmenschlichen Kern herauszuschälen, wie Menschen funktionieren. Mich hat diese Tür mit den vielen Riegeln sehr beeindruckt. Das ist ein Dokument der Angst. Ein vielsagendes Objekt, das man auch auf der Bühne sehen wird, in einem Sich-schützen-wollen-Kontext.“

Vom Opfer zur Täterin

Sie legen also Turandot auf die Couch? „Ich möchte das Freud-Bild nicht überstrapazieren. Aber das Erste, was Turandot auf der Bühne erzählt, ist der Übergriff auf ihre Ahnen, die von den Tataren entführt und vergewaltigt wurden. Und sie rächt diese Tat in einem endlosen Loop. Turandot kommt aus einer Gewalterfahrung. Punkt. Und es ist wahnsinnig interessant, zu beobachten, welche Mauern diese Frau um sich hochgezogen hat, auf dass bloß niemand – schon gar kein Mann – je wieder an sie herankommt. Diese Wälle werden immer höher, nur damit man nicht wieder verletzt wird. Irgendwann gerät das dann außer Kontrolle, und sie wird, weil sie nie wieder Opfer sein will, zur Täterin.“

Puccinis Meisterwerk ist die Geschichte der Prinzessin Turandot, die jedem Verehrer drei Fragen stellt und alle köpft, die sie falsch beantworten. Es ist die Oper mit dem wohl größten Hit der Operngeschichte: „Nessun dorma“. Jonas Kaufmann wird ihn zu Beginn des dritten Akts singen und – wenn er es nicht total versemmelt – tosenden Zwischenapplaus bekommen.

Claus Guth wird die Turandot auf Star-Sopranistin Asmik Grigorian maßschneidern. Und: Das Märchen wird zur Parabel. Die überbordenden chinesischen Stilelemente anderer Inszenierungen lässt Guth ebenfalls weg: „Ich habe – metaphorisch – das Zimmer leergeräumt und dann nur mehr jene Dinge hereingelassen, von denen ich mir gedacht habe: Die gefallen mir immer noch wie die abgeschlagenen Köpfe. Ich habe aus der Musik heraus inszeniert, und Puccini hat das chinesische Sujet eigentlich nur gewählt, weil ihn die harmonischen Eigenheiten dieses Kontinents inspiriert haben.“

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Asmik Grigorian
Asmik Grigorian im Gastrobereich. Das andere ist selbsterklärend.

Foto: Lukas Gansterer

„Turandot“ – endlich aufgeräumt

„Turandot“-Inszenierungen sind bislang bekannt wegen ihrer bunten, dekorativen Wimmelbilder. Die erspart uns Guth: „Ich habe beschlossen, ich möchte mich nur auf die drei Protagonisten konzentrieren, die Geschichte unter die Lupe nehmen.“

Guth lässt ein totalitäres Regime entstehen. „Es ist ein erfundenes System. Eine Kafka-Parabel. Ich kreiere einen Ort, in dem auch die Köpfe grotesk-bürokratisch verwaltet werden. Menschen, die vor Türen stehen, durch die sie erst kommen, wenn sie groteske Fragen beantworten. Das spielt im ersten Akt eine große Rolle.“

In der Mitte der Bühne ein Kubus, in dem die Solosänger*innen agieren. Rundum bewegt sich der Chor, dessen Mitglieder alle das Gleiche anhaben. So werden optisch zwei Räume geschaffen.

Warum aber – und es ist eine der großen Fragen – verliebt sich Calàf in eine derartige Soziopathin? „Der Prinz ist ein Vertriebener, ein Ortloser, ein Orientierungsloser, einer, der auch Gewalt erfahren hat. Er kann die drei Fragen beantworten, weil er genau hinschaut und hinhört und davon auch etwas – in einer Schicksalsverwandtschaft – versteht.“

Asmik Grigorian
Asmik Grigorian in Boxer-Pose. Die Plastikschlapfen zum Nadelstreif waren die Idee unseres Stylisten Simon Winkelmüller.

Foto: Lukas Gansterer

Vom Bombast im Kleinen

Daraus wird im dritten Akt die große Liebe. Regisseur Guth: „Ich freu mich darauf, zu erzählen, wie er es schafft, dieses Bollwerk, das sie rund um sich aufgebaut hat, zu durchbrechen.“ Deshalb wird in der Staatsoper auch das deutlich längere „Alfano 1“-Ende von „Turandot“ gespielt werden. Puccini war ja vor Fertigstellung der Oper gestorben, und Franco Alfano hat dann das Ende mithilfe von Puccinis Skizzenmaterial fertiggestellt. Später wurde es dann noch mehrfach überarbeitet und gekürzt – daher „Alfano 1“-Variante.

Zum dritten Mal entwickelt Claus Guth mit Grigorian ein Rollendebüt. Mit Jonas Kaufmann hat Guth studiert: „Das sind echte Kaliber. Dass ich sie gut kenne, macht es leichter, genauer hinzuschauen, was bei ‚Turandot‘ drinnen ist. Auf der einen Seite die bombastische Musik, auf der anderen Seite die Nöte des Einzelnen. Ich finde, man soll dem Bombast nicht visuell hinterherlaufen. Wenn man genau das Gegenteil tut, dann wird es groß.“

Plötzlich kommt Asmik Grigorian um die Ecke. Es ist ihr erster Probetag. Sie hat eine zwölfstündige Autofahrt hinter sich. Nichts davon merkt man ihr an.

Sie haben bereits mit Claus Guth gearbeitet, wie würden Sie seinen Arbeitsstil beschreiben?

Ich habe volles Vertrauen in ihn. Er ist so sachkundig und hat auf jede Frage eine Antwort – zwischen uns herrscht ein solches gegenseitiges und besonderes Vertrauen.

Manche glauben, dass mich die Rolle der Turandot umbringen wird.

Asmik Grigorian

Claus Guth wird Turandot auf die Couch legen. Wie verrückt ist Turandot eigentlich?

Ich weiß es nicht, aber ich kann nur sagen, dass ich verrückt genug bin, die Rolle zu singen, und ich freue mich sehr darauf.

Was ist das Spannende an Turandot?

Musikalisch ist Liù eigentlich interessanter und passt besser zu meiner Stimme. Allerdings war Turandot immer eine sehr unklare Rolle, die ich besser verstehen wollte, so etwas wie ein Märchen, an das ich nie geglaubt habe. Also wollte ich die Rolle singen, um sie besser zu verstehen.

Puccini verlangt von der Rolle einen stimmlichen Grenzgang. Wie herausfordernd ist das für Ihre Stimme?

Turandot ist bekanntlich keine leichte Rolle, und die Tessitura ist schwierig. Sie wurde geschrieben, um die Schärfe der Stimme hervorzuheben. Man muss aufpassen, dass man sich nicht überfordert und diese Rolle nicht zu oft singt. Es ist sicherlich eine heikle Rolle.

Der Druck, den ich mir selber mache, ist härter als jeder Druck von außen.

Asmik Grigorian

Sie sind ein Opernsuperstar in einer Liga mit Garanča und Netrebko, alle Scheinwerfer sind auf Sie gerichtet – ist das nicht furchtbar anstrengend, vor allem bei Rollendebüts wie diesem?

Jeder Fehler, den ich mache, wird aufgezeigt und diskutiert, aber der Druck, den ich auf mich selbst ausübe, ist härter als jeder mögliche Druck, den ich von außen bekommen könnte. Manchmal vergessen die Leute auch, dass ich ein menschliches Wesen bin – sie hören meinen Namen und denken, dass es automatisch eine gute Leistung sein muss. Die Erwartungen der Leute sind also sehr hoch – manchmal zu hoch. Sogar bei Turandot spüre ich den Druck, und einige Leute denken, dass mich diese Rolle umbringen wird (und das könnte sie auch!), aber ich liebe die Verrücktheit dieser Kunst.

Sie sagen: „Wenn mir etwas nicht gefällt, dann gehe ich.“ Klingt befreiend.

Manche Menschen sind Kämpfer, aber ich bin es nicht. Wenn ich etwas nicht für richtig halte, versuche ich, eine Alternative zu finden und einen anderen Weg zu gehen.

Haben Sie je eine Produktion verlassen, weil Sie die Regie genervt hat?

Nein.

Sie bezeichnen sich selbst als hypersensibel. Wie gehen Sie damit um, und was bedeutet das vor allem im Alltag für Sie?

Das ist das größte Geschenk und die größte Herausforderung, besonders für einen Künstler. Es ist manchmal schwierig, aber ich denke, es ist wichtig, sich so zu fühlen, um auf der Bühne wirklich kommunizieren zu können.

Asmik Grigorian
Backstage. So schaut’s aus, wenn wir Shootings machen. Hinter Asmik Grigorian die verschiedenen Outfits, am Tisch Schminkutensilien.

Foto: Lukas Gansterer

Wie weit lassen Sie ein Libretto wie dieses völlig irre an sich heran?

Ich verändere die Geschichte so, wie ich sie verändern muss, aber jede meiner Reaktionen muss ehrlich und echt sein, denn ich kann nicht lügen. Natürlich stimmen meine persönlichen Gefühle nicht immer mit dem Libretto überein, aber ich muss sie dennoch kanalisieren, um die wahren Gefühle der Figur zu vermitteln. Ich versuche immer zu verstehen, wie jemand im Vergleich zu seinen Handlungen fühlt.

Die nächste Frage ist ein wenig blöd, aber: Turandot killt ihre Bewunderer, wenn sie die Fragen nicht richtig beantworten. Was muss Mann tun, um Ihnen nahekommen zu dürfen / zu können?

Eine Kombination aus vielen Dingen – Sinn für Humor, Ehrlichkeit … Es muss jemand sein, bei dem ich mich wohl und sicher fühle. Es ist wichtig, jemanden zu haben, auf den ich mich verlassen kann.

Wie einsam sind Sie nach einer Aufführung, wenn das Licht aus ist, das Publikum nach Hause gegangen ist – und Sie allein in einem Hotelzimmer sitzen? Wie finden Sie wieder zu sich selbst?

Ich bin nie allein, und ich habe meine Familie die meiste Zeit bei mir, die mir hilft, mich zu erden, weniger Druck zu verspüren, und mich unterstützt. Letztendlich ist man aber immer noch allein, egal von wem man umgeben ist. Es ist nur wichtig, sich bewusst zu machen, dass diese Einsamkeit Teil des Lebens ist, und wir müssen damit umgehen und uns ihr stellen. Sie kommt mit der Erfahrung und dem Wachstum.

Rollen wie die Turandot verlangen emotional alles. Wie teilt man die beschränkten emotionalen Ressourcen, die wir Menschen haben, auf?

Meine Familie und meine Kinder bedeuten mir alles, und wenn ich nicht genug Zeit mit ihnen verbringe, habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Aber ich brauche auch meine Zeit, um allein zu reisen. Ich kann morgens aufwachen und den ganzen Tag spazieren gehen, also ist es egal, was ich mache – aber ich brauche Zeit für mich.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie auf jeder Opernbühne stehen wollen, auf der auch Ihr Vater gesungen hat. Geschafft?

Fast, aber es gibt so viele Theater! Es ist auf jeden Fall eine Arbeit, die noch nicht abgeschlossen ist …

Eine letzte Frage: Sie waren vor fast genau drei Jahren am Cover der BÜHNE. Was hat sich seither verändert?

Mein Leben ändert sich ständig: neue Aufgaben, neue Menschen, neue Städte …So mag ich es!

Claus Guth Turandot
Claus Guth: Er hat von Mozart über Wagner und Strauss bis hin zu Monteverdi fast alles in nahezu allen großen Häusern inszeniert. Seine letzte Regiearbeit für die Staatsoper war „Tannhäuser“

Foto: Monika Rittershaus

„Turandot“: Darum geht’s

Jeder, der sich um die Hand der Prinzessin Turandot bemüht, muss drei Rätsel lösen oder sterben. Prinz Calàf versteckt sich in der Stadt vor seinen Feinden, gemeinsam mit seinem Vater Timur, Anführer der geschlagenen Tataren. Der alte Mann ist blind und wird aufopfernd von der Sklavin Liù gepflegt, welche ihm aus Liebe zu dessen Sohn Calàf ins Exil gefolgt ist. Liù und Timur versuchen, Calàf, von der Schönheit der Prinzessin geblendet, abzuhalten, sich den Rätseln zu stellen. Calàf löst die drei Rätsel der grausamen Prinzessin, welche nunmehr versucht, ihren Vater von der ungeliebten Hochzeit abzubringen. Calàf schlägt diesem nun einen neuen Pakt vor. Sollte man seinen Namen vor Morgengrauen erfragen, wäre er bereit zu sterben. Um den Namen zu finden, schreckt die Prinzessin nicht davor zurück, die Sklavin Liù zu foltern. Um den Namen nicht preiszugeben, findet diese Erlösung im Selbstmord. Calàf bietet Turandot sein Leben an, indem er seinen Namen nennt. In dem Moment erklärt Turandot, sie kenne den Namen des Fremden, „sein Name ist Liebe“.