Häufig sind Qualität und Alter des Klebstoffs entscheidend, wenn es darum geht, mit wie viel Beständigkeit bestimmte Formen von Zusammenhalt gekennzeichnet sind. Beginnt der Leim, Kleister oder auch der nach Kindheit duftende Uhu-Stick langsam zu bröckeln, geht damit oft auch eine gewisse Unordnung einher. Die Figuren in Arthur Schnitzlers 1910 uraufgeführter Tragikomödie „Das weite Land“ leben in einem solch zerbröselnden Konstrukt. Sie versuchen zwar, wie Hoteldirektor Doktor von Aigner dem Fabrikanten Friedrich Hofreiter erklärt, „Ordnung zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches … Das Natürliche … ist das Chaos.“

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In diesem Chaos bespitzeln sie einander und erklären die Liebe, die sich als Bindemittel an sich ganz gut bewährt hat, zu austauschbarem Konsumgut. Zusammenhalt? Fehlanzeige. Eher: zusammen halt. Weil man es immer schon war. Aber wirklich bindend ist dieses Konzept nicht.

Ab Herbst ist Barbara Freys Inszenierung des Fin-de-Siècle-Stückes im Akademietheater zu sehen. Die Koproduktion mit der Ruhrtriennale befasst sich mit einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren hat. Im Zentrum dieser Orientierungslosigkeit: Friedrich Hofreiter, verheirateter Geschäftsmann mit Hang zur Untreue. Geht es nach Michael Maertens, der in die Rolle Hofreiters schlüpft, ist der erfolgsverwöhnte Fabrikant ein Zerrissener. „Da ist etwas in ihm, was ihn unrund macht. Wie ein Dämon, der in ihm steckt“, erläutert der Schauspieler. Ihn einfach als Monster oder Bösewicht zu sehen würde ihm, so Maertens, somit ganz und gar nicht gerecht. „Was er vorgibt zu sein, ist er dann doch nicht. Das macht ihn zu einer Figur, bei der es großen Spaß macht, sie in Schutz zu nehmen.“

Zur Person: Nina Siewert

Die gebürtige Stuttgarterin studierte an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Vor ihrem Engagement am Burgtheater, gehörte sie zum Ensemble des Schauspiel Stuttgart.

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Weltautor Schnitzler

Nina Siewert, ab Herbst neues Ensemblemitglied des Burgtheaters, spielt Erna, mit der Hofreiter ein Verhältnis hat. Für die gebürtige Stuttgarterin ist es die erste Rolle in einem Schnitzler-Stück. „Ich habe zuerst den ‚Reigen‘ gelesen und dachte mir im ersten Moment, dass das für mich in feministischer Hinsicht gar nicht geht, dass ich das nicht spielen kann. Davor hüte ich mich mittlerweile, weil ich erkannt habe, dass man Schnitzler- Texte fünf- oder sechsmal lesen muss, bis man all die Schichten abgetragen hat und versteht, wovon er eigentlich schreibt. Er entwirft nämlich ganz tolle Frauenfiguren, die den Männern sehr viel entgegenzusetzen haben“, erklärt die Schauspielerin, die wir gemeinsam mit Michael Maertens nach der Probe im Akademietheater treffen.

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Die Wiener*innen muss man sich erobern.

Michael Maertens, Schauspieler

„Ich würde sogar sagen, dass die Frauenfiguren in ‚Das weite Land‘ viel stärker sind als die männlichen Figuren“, fügt Maertens hinzu. Von Arthur Schnitzler hat er unter anderem schon „Anatol“ gespielt, in einer Inszenierung des damaligen Festwochen-Intendanten Luc Bondy. „Wir haben uns damals ziemlichen Ärger eingehandelt, weil es Menschen gab, die meinten, ein Hamburger könne diese Rolle nicht spielen. Für mich war es eine der wichtigsten Rollen und Erfahrungen meines Lebens“, erinnert sich der Schauspieler. Nach einer kurzen Pause setzt er nach: „Ich bin ein großer Verfechter davon, dass Schnitzler ein Weltautor ist, dass man ihn auch in London, Paris und New York spielen kann – von Schauspieler*innen, die dort leben. Die Handlung mag zwar in Wien stattfinden, aber wir spielen hier ja auch Tschechow oder Shakespeare und tun so, als ob wir in Moskau oder London wären.“

Das weite Land von Arthur Schnitzler

Das weite Land von Arthur Schnitzler

Mit genauem Blick seziert Arthur Schnitzler in „Das weite Land“ eine Gesellschaft, die sich halt- und orientierungslos fühlt. Der Autor selbst nannte die Tragikomödie sein „bestgebautes Stück“. Eine Zusammfassung. Weiterlesen...

Obwohl das Wiener Publikum oft sehr genaue Vorstellungen davon hat, wie etwas sein soll, lässt es sich trotzdem überraschen und überzeugen, fügt er hinzu. „Kann es sein, dass Wien in dieser Hinsicht schon sehr speziell ist?“, fragt Siewert und schaut ihren Kollegen grinsend von der Seite an. Maertens antwortet: „Die berühmte Theaterliebe ist zwar da, aber die bedingungslose, offene Zuneigung gibt es nicht. Die Wiener*innen muss man sich erobern.“

Zur Person: Michael Maertens

Der gebürtige Hamburger beim Fotoshooting im Café Zartl im dritten Bezirk in Wien. Die Fotos wurden vor dem ­Lockdown gemacht. Der gebürtige Hamburger kommt aus einer Theaterfamilie: Opa Willy Maertens, Oma Charlotte Kramm, Papa Peter und die Geschwister Kai und
Miriam sind ebenfalls Schauspieler.

Im deutschsprachigen Raum gibt es kaum ein großes Theater, in dem der gebürtige Hamburger noch nicht auf der Bühne stand. Zweimal wurde er bereits mit dem Nestroy ausgezeichnet. Dem Burgtheater-Ensemble gehört er seit 2009/10 an.

Konzentrierte Räume

Mit Barbara Frey verbindet Michael Maertens eine langjährige Arbeitsbeziehung. „Mich fasziniert immer wieder, von welch profundem Allgemeinwissen sie ausgeht. Ich habe auch deshalb großes Vertrauen in sie, weil sie jemand ist, die weiß, was sie will, und sich auch sehr intensiv mit dem Autor und dem Stück beschäftigt.“

Liebe im weitesten Sinne
Friedrich Hofreiter rna Wahl (Nina Siewert) einen Heiratsantrag, den diesen jedoch ablehnt.

Foto: Lukas Gansterer

Für Nina Siewert ist „Das weite Land“ die erste Zusammenarbeit mit der Schweizer Regisseurin, die in der Probenarbeit großen Wert auf absolute Aufmerksamkeit und Konzentration legt. „Sie schafft dadurch einen Raum, der allein den Proben gewidmet ist. Weil ich manchmal ein unruhiger Mensch bin, hat mir das vor allem am Anfang viel abverlangt. Ich dachte zum Beispiel immer, dass ich still sitzen würde, bis sie meinte, ich solle mich mal nicht bewegen“, erzählt die Schauspielerin lachend. „Es ist eine andere Form der Körperlichkeit, auf die ich mich aber gerne einlasse.“

Dafür, wieder Teil eines Ensembles zu sein, hat sich die zukünftige Neo-Wienerin ganz bewusst entschieden. „Theater funktioniert nur in einem Miteinander, egal ob auf, vor oder hinter der Bühne“, so Siewert. Anders als im fiktiven Kosmos von „Das weite Land“ wird Zusammenhalt im Theater nämlich tatsächlich zusammengeschrieben.

Zu den Spielterminen von „Das weite Land“ im Akademietheater.