Der 16. Mai ist nicht nur einer der ersten richtig heißen Frühlingstage dieses Jahres, sondern auch der Tag nach Arthur Schnitzlers 160. Geburtstag. Wir treffen Regisseurin Barbara Frey nach der Probe für Schnitzlers Fin-de-Siècle-Stück „Das weite Land“ im Arsenal, wo sich inmitten lang gezogener Backsteinbauten die Probebühnen des Burgtheaters befinden. Das Stück ist eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale, der Barbara Frey noch bis 2023 als Intendantin vorsteht.

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An ihre erste intensive Begegnung mit dem 1931 verstorbenen Autor erinnert sie sich noch gut: „Das war im Jahr 2007 am Schauspielhaus Zürich. Ich habe damals den ‚Reigen‘ inszeniert.“ Zwar hatte die gebürtige Baslerin, die als Schlagzeugerin über die Musik zum Theater kam, davor schon einige seiner Stücke und Erzählungen gelesen, ihn aber „noch nicht so nah umkreist wie bei dieser Inszenierung“, erzählt sie rückblickend.

Wir sitzen am linken und rechten Ende ihres Regietischchens auf der Probebühne. Wo gerade noch die Weltsimulationsmaschine auf Hochtouren lief, ist es nun ganz ruhig. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Bei Schnitzler finde ich unglaublich interessant, wie unverbindlich er einem vorkommt, wenn man ihn nur gelegentlich liest. Beschäftigt man sich jedoch intensiver mit seinen Texten, merkt man, dass ihm zu Unrecht etwas Distanziertes und Unverbindliches anhaftet. Das könnte aber auch ein Trick von ihm sein.“

Wir werden technisch immer erreichbarer und seelisch immer unerreichbarer. Die Angst vor dem wirklichen Gespräch und vor intimen Konfrontationen ist in diesem Stück bereits enthalten.

Barbara Frey

Scheinbarer Plauderton

Die Idee, die 1910 uraufgeführte Tragikomödie als Koproduktion und Eröffnungsstück der Spielzeit 2022/23 zu inszenieren, entstand während eines Gesprächs mit Andreas Karlaganis, Leitender Dramaturg des Burgtheaters. „Manchmal passieren solche Entscheidungen intuitiv, es ist ein unbestimmtes Gefühl, das in einem aufkommt“, erinnert sich Barbara Frey. Nebst der Tatsache, dass „die Rollen in dem Stück noch fantastischer werden, wenn man so ein großartiges Ensemble zur Verfügung hat“, begeistert sich Barbara Frey auch sehr für diese besondere Art von Vakuum, in dem Schnitzlers Gesellschaft steckt. „Wie auch für diese langsam vor sich hin kriechende Eskalation“, fügt sie hinzu.

Zur Person: Barbara Frey

Barbara Frey, geboren 1963 in Basel, studierte in Zürich Germanistik und Philosophie und spielte als Schlagzeugerin in verschiedenen Schweizer Bands. Von 2009/10 bis 2018/19 war Barbara Frey Intendantin des Schauspielhauses Zürich. Für die Spielzeiten 2021 bis 2023 übernimmt Barbara Frey die Intendanz der Ruhrtriennale. Seit 2006 arbeitet sie regelmäßig am Burgtheater. 

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Für Barbara Frey, die schon seit vielen Jahren regelmäßig am Burgtheater inszeniert, ist „Das weite Land“ ein Stück, das voller Warnungen steckt. Der scheinbare Plauderton, mit dem Schnitzler seine Figuren ausstattet, macht es jedoch schwer, diese sofort zu erkennen. Es wirkt so, als würde unter der Oberfläche ein dunkler Fluss verlaufen, „der unablässig in Bewegung ist und den Figuren eine große Instabilität verleiht“, erklärt die Regisseurin, während ihr Blick von einem Ende der Probebühne zum anderen wandert. Bei einer schwarzen Wand außerhalb des Bühnenbilds hält sie für einen Moment inne. Zahlreiche Ausdrucke, die Werke von Louise Bourgeois, Maria Lassnig, James Turrell und vielen anderen zeigen, wurden an diese Wand gepinnt. „Das sind Assoziationen, die ich beim Lesen der Texte und beim Nachdenken über die Figuren hatte“, hält sie fest.

Barbara Frey: Aus der Stille entspringt ein Textfluss

Foto: Stefan Fürtbauer

Radikale Aufmerksamkeit

Die Figuren aus Schnitzlers „Das weite Land“ bilden für Barbara Frey nicht nur eine Gesellschaft ab, die eine Art Leerstelle zwischen den Jahrhunderten ausfüllen muss, sondern auch eine, der es an Visionen fehlt. „Damit ist sie unserer heutigen Gesellschaft nicht unähnlich“, merkt sie mit der für ihre Ausdrucksweise typischen Klarheit an. Außerdem bewirke die zunehmende Industrialisierung, dass Schnitzlers Figuren „immer ein bisschen im Vorbeigehen kommunizieren“. Darin erkennt Barbara Frey ebenfalls eine Verbindung zu unserer Zeit: „Wir werden technisch immer erreichbarer und seelisch immer unerreichbarer. Die Angst vor dem wirklichen Gespräch und vor intimen Konfrontationen ist in diesem Stück bereits enthalten.“

Auch in der Probenarbeit wünscht sich Barbara Frey radikale Aufmerksamkeit, die für sie in erster Linie Ausdruck von Respekt ist. Außerdem ist das Vordringen in die fiktiven Welten der Stücke ihrer Ansicht nach nur über Stille und absolute Konzentration möglich. „Nur in einem konzentrierten und stillen Raum bekommen Worte, Bewegungen und Geräusche Gewicht“, bringt die Regisseurin ihre Herangehensweise auf den Punkt. „Immerhin haben wir hier elf Meter Portalbreite“, ergänzt sie lachend. „Wenn ein Mensch von einem Ende zum anderen geht, bedeutet das etwas. Die Spieler*innen latschen ja nicht einfach über die Bühne wie über einen Zebrastreifen.“ So tut sich Schritt für Schritt eine Welt auf, für die es sich definitiv lohnt, das Smartphone auszuschalten.