Rund 75 Minuten braucht man, um von der Josef­stadt zu Fuß ins Arsenal zu gelangen. Über die damit einhergehende Schrittanzahl, im momentanen Diskurs ja zum ultimativen Gesundheitsparameter hochstilisiert, kann an dieser Stelle allerdings keine Auskunft gegeben werden, denn diese Info stammt nicht aus den Untiefen einer Tracking-App, sondern aus dem Erfahrungsschatz von Theater- und Opernregisseurin Barbara Frey. Während der Proben für „Der Untergang des Hauses Usher“, einer Bühnen­adaption der berühmten Erzählung von Edgar Allen Poe, wurde diese Strecke nämlich zu ihrem täglichen Arbeitsweg. Für die in Basel geborene Theatermacherin eine vor allem in akustischer Hinsicht interessante Erfahrung. „Ein bisschen weniger als eine Stunde dauert es, bis man beim Park, der das Belvedere umgibt, ankommt und in eine plötzliche Stille eintaucht. Es ist wie eine akustische Schneise, durch die man hindurchgeht, bevor der Straßenlärm wieder beginnt“, sagt Frey, die in ihren Zwanzigern als Schlagzeugerin aktiv war. 

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Ins Dunkel eintauchen

Ihre Sensibilität für Geräusche und Klänge eint sie mit jenem Autor, dessen Erzählung sie gemeinsam mit einem sechsköpfigen Ensemble und zwei Musikern für die Bühne adaptierte. „Edgar Allen Poes Literatur hat viel mit Stille, aber auch sehr viel mit Tosen und Knarzen zu tun. Es ist ein sehr akustisches Werk“, erklärt Barbara Frey. Seine Texte hat sie schon früh für sich entdeckt. Mit ungefähr 13 Jahren tauchte sie gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder zum ersten Mal in die düsteren Erzählwelten des 1849 verstorbenen Schrift­stellers ein. Von diesem Zeitpunkt an haben sie seine Erzählungen nie mehr so richtig losgelassen. „Für uns war es damals eine sehr wichtige Erfahrung, selbstbewusst und frei entschieden in dieses Dunkel vorzustoßen“, erinnert sich die Regisseurin. Seither hat sie sich auch in ihren Theaterarbeiten immer wieder der Dunkelheit zugewandt. 

Markus Scheumann, Stacyian Jackson, Katharina Lorenz, Jan Bülow, Annamária Láng, Bibiana Beglau in „Der Untergang des Hauses Usher".

Foto: Matthias Horn

Untergang einer alten Weltordnung

„Es ist ein Drang, von dem ich nicht wirklich weiß, woher er genau kommt“, sagt sie. Erklären müsse man das ihrer Meinung aber auch nicht. „Man spürt einfach, dass man sich auf diese Suche begeben möchte, geht der Sache nach und findet auf diesem Weg viele interessante Menschen, die sich gerade auf einer ähnlichen Suche befinden.“

Ihre Inszenierung – eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale, der Barbara Frey seit diesem Jahr als Intendantin vorsteht – entspinnt sich in erster Linie rund um den von Poe geschilderten Niedergang des Hauses Usher, es fließen aber auch andere Erzählungen aus der Feder des berühmten amerikanischen Autors mit ein. Wenn der unheimlich anmutende Familiensitz der Ushers am Ende der bekannten Erzählung in sich zusammenbricht, steht das für den Untergang von etwas sehr viel Größerem. Einer alten Weltordnung zum Beispiel.

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Inspiriert hat die Regisseurin aber auch der Gedanke, dass Häuser in der Literatur häufig als Metaphern für den Körper des Menschen, also als Gehäuse für die menschliche Seele fungieren. Es sind jedoch nicht nur literarische Quellen, die Barbara Frey angezapft hat. „Bei einer großen Retrospektive in Paris ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass Edward Hopper Geisterhäuser fotografiert hat. Er war süchtig danach“, erklärt sie und deutet auf eine Reihe an Bildern, die hinter ihrem kleinen Regietischchen an einer Wand hängen. „Da ist mir klar geworden, warum all seinen Gemälden, auch wenn ein blauer Himmel zu sehen ist, etwas Unheimliches anhaftet. Irgendetwas daran bleibt immer geisterhaft.“

Anna Gmeyners selten gespieltes Stück „Automatenbüfett“ inszeniert Barbara Frey mit u. a. Michael Maertens, Maria Happel und Katharina Lorenz.

Foto: Matthias Horn

Spontan berührt

Alles andere als ein Geisterhaus ist für Barbara Frey das Burgtheater. Mehrmals hat sie schon in Wien inszeniert, zuletzt „Automatenbüfett“ von Anna Gmeyner, das zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Bevor sie sich mit dem Stück auseinanderzusetzen begann, hatte sie von der 1902 in Wien geborenen Autorin noch nie etwas gehört oder gar gelesen. Das verwundert nicht wirklich, denn im Laufe der Jahrzehnte geriet Anna Gmeyner immer mehr in Vergessenheit. „Genau das hat mich daran aber auch interessiert“, so die Regisseurin. „Vergessen ist ein ebenso aktiver Vorgang wie Erinnern, also habe ich mich gefragt, warum diese Autorin aus dem Diskurs verschwunden ist.“ Trotz seines folkloristischen Anteils hat sie das Stück „spontan berührt“, beim ersten Lesen hatte sie das Gefühl, auf einen fernen Grund zu blicken und dort etwas zu entdecken, von dem sie sich angezogen fühlte. 

Außerdem sei sie, wie Frey lachend betont, kein Mensch, der ewig braucht, um sich für oder gegen eine Sache zu entscheiden. „Ich sage Ja, und dann geht auch schon der Kampf damit los“, bringt sie ihre Herangehensweise auf den Punkt. Wie diese Auseinandersetzung dann genau aussieht, ist jedoch von Text zu Text verschieden. 

So gelten für Stückentwicklungen andere Regeln als für Inszenierungen klassischer Stücke. Barbara Frey fühlt sich in beiden Bereichen wohl. Bei der Entwicklung eines Stoffes kann es, wie sie erläutert, schon einmal vorkommen, dass man sich abends im Bett fragt, was morgen eigentlich genau passiert. „Man geht ja nicht einfach vom zweiten in den dritten Akt über, sondern fängt immer wieder bei null an.“ 

Rollentausch

Am absoluten Nullpunkt befindet sich die Theaterwelt zwar nicht mehr, wenn es darum geht, Regieposten und Intendanzen mit Frauen zu besetzen, trotzdem mahlen auch am Theater die Mühlen der Gleichberechtigung nur langsam. „Es ist zwar einiges in Bewegung geraten, trotzdem ärgert es mich, dass Frauen immer noch ganz anders wahrgenommen werden als Männer. Sie werden anders kritisiert, ihnen hängen Schuldverstrickungen, insbesondere im Bereich der Politik, sehr viel länger nach“, erklärt Barbara Frey, die von 2009 bis 2019 die Intendanz des Zürcher Schauspielhauses innehatte. Ihrer Meinung nach ist der Feminismus erst dann angekommen, wenn wirklich alle mitmachen, „wenn also der Rollen­tausch so kraftvoll und produktiv ist, dass man wirklich sagen kann, es hätte sich etwas bewegt. Alles andere ist ein Weg­moderieren von schwierigen Zuständen.“ Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Regisseurin selbst als „leidenschaftliche Anhängerin von gemischt­geschlechtlichen Gruppen“ bezeichnet. 

Absolute Konzentration

Als junge Schlagzeugerin hat sie von ihren – damals vorwiegend männlichen – Bandkollegen viel Respekt erfahren. „Ich hatte das Gefühl, dass es ihnen etwas bedeutet, dass eine Frau am Schlagzeug sitzt“, fasst sie zusammen. Außerdem ist sie davon überzeugt, dass, wenn Frauen und Männer zusammenarbeiten, unglaublich viel Energie und Kreativität freigesetzt werden kann. 

In der Probenarbeit steht bei Barbara Frey ab­solute Aufmerksamkeit und Konzentration an oberster Stelle. „Wenn mir das nicht gelingt, brauche ich morgens gar nicht erst aufzustehen“, so die Regisseurin. Schließlich seien Probebühne und Bühne zwei der wenigen Orte, die es in unserer Welt noch möglich machen, Stille herzustellen. Aber auch sämtliche Abstufungen von wildem Wirbel und lautem Getöse. Wie bei Poe eben. Oder wie beim Schlagzeugspielen.

Zur Person: Barbara Frey

Barbara Frey, geboren 1963 in Basel, studierte in Zürich Germanistik und Philosophie und spielte als Schlagzeugerin in verschiedenen Schweizer Bands. Von 2009/10 bis 2018/19 war Barbara Frey Intendantin des Schauspielhauses Zürich. Für die Spielzeiten 2021 bis 2023 übernimmt Barbara Frey die Intendanz der Ruhrtriennale. Seit 2006 arbeitet sie regelmäßig am Burgtheater.