Ich bin Vincent! und ich habe keine Angst: Innenleben eines Außenseiters
Die Familienoper „Ich bin Vincent! und ich habe keine Angst“ macht Mobbing zum Thema. Berührend, witzig, surreal – mit tierischen Mutmachern und einem Mädchen namens Jacke. Alois Mühlbacher spielt die Titelrolle. Johannes Schmid sitzt auf dem Regiestuhl.
Wir kennen das alle. Kaum jemand blieb als Kind von Ausgrenzungserfahrungen verschont. Weil er oder sie dick war. Oder dünn. Eine Brille hatte. Die „falschen“ Marken trug. Nicht die „richtigen“ Leute kannte. Einfach war – wie und was auch immer. Denn logische Argumente für gehässige Schikanen gibt es nicht. An manchen war man auch selbst beteiligt – und kann sich im Nachhinein nicht erklären, warum. Alois Mühlbacher kennt das auch, aktiv wie passiv. „Dass man sich ausgeschlossen fühlt, als Einzelgänger empfindet, aber auch, dass man bei Hänseleien mitmacht, die auf Kosten anderer gehen.“
Social Media habe das Problem noch verschärft. „Einerseits, weil es den Leuten reichweitenstärkere Mittel zur Hand gibt, andererseits, weil viele Menschen durch die Preisgabe von Privatem auch mehr Angriffsfläche bieten. Den Ausschluss aus einer Gruppe selbst hat es aber schon immer gegeben.“ Das MusikTheater an der Wien hat sich des brandheißen Themas angenommen und – basierend auf dem vielfach ausgezeichneten niederländischen Jugendbuch „Ich bin Vincent! und ich habe keine Angst“ von Enne Koens – eine gleichnamige Oper für die ganze Familie in Auftrag gegeben. „Mir hat dieser Stoff sofort gefallen“, berichtet Regisseur Johannes Schmid, „weil hier sehr ernsthaft, zugleich aber auch spannend und unterhaltsam von Vincents Problem, Mobbing, erzählt wird. Und davon, wie er damit umgeht beziehungsweise vor allem nicht umgeht. Er sucht anfangs die Schuld bei sich, frisst alles in sich hinein, lernt aber im Verlauf der folgenden 60 Minuten, dass die Gruppendynamik gar nichts mit ihm persönlich zu tun hat und er sich dem stellen muss, indem er der Klasse gegenüber sein Leiden auch formuliert. Nur so kann sich das Gefüge neu aufstellen. Die anderen müssen ihr Verhalten ändern, nicht er selbst.“
Imaginäre Freunde
Auch er habe sich als Kind oft in Selbstgespräche geflüchtet, so Alois Mühlbacher. „Vincent geht aber noch einen Schritt weiter und baut sich eine ganz eigene Welt, in der eine Tierfamilie, bestehend aus Eichhörnchen, Käfer, Fohlen und Wurm, mit ihm kommuniziert und ihn in Lebensfragen berät.“ Am liebsten würde er irgendwann sein Zimmer gar nicht mehr verlassen. Den Umschwung bringt, so erzählt Johannes Schmid, eine neue Schülerin: Jacqueline, genannt Jacke. „Sie ist unvoreingenommen, findet Vincent cool und mag ihn. Dadurch gerät die gesamte Hierarchie ins Wanken und alles wendet sich zum Positiven, weil festgefahrene Muster aufbrechen. Vincent ist endlich in der Lage, sich Hilfe zu holen.“
Kein anatomisches Wunder
Die gesangliche Herausforderung für Alois Mühlbacher liegt allein schon am Umfang seiner Rolle – „wahrscheinlich die größte, die ich je auf einer Opernbühne gesungen habe“. Die reine Singzeit betrage rund 35 Minuten und auch die zeitgenössische Tonsprache berge Tücken. „Das Glück bei einer Uraufführung wie dieser ist es aber, dass man vorher mit dem Komponisten in Kontakt treten kann. Und Gordon Kampe hat dieses Stück wirklich für meine Stimme geschrieben, was eine große Erleichterung ist, weil ich nicht ununterbrochen unangenehme Stimmlagen bewältigen muss.“
Alois Mühlbacher kam mit zehn Jahren zu den Sankt Florianer Sängerknaben, entwickelte sich dort rasch zum Solisten – und hörte nie auf, hoch zu singen. „Ich wollte das nicht verlieren und bin einfach über den Stimmbruch hinweggegangen“, erzählt er. „Darunter hat sich meine Modalstimme gebildet, Bassbariton. Ich könnte also auch den Sarastro singen.“ Das sei für viele eine große Überraschung. „Die gängigste Meinung gegenüber Countertenören ist ja, dass sie anatomische Wunder seien. Dabei ist es lediglich eine Technik, bei der man die Randschwingung der Stimmbänder nutzt.“ Durch die zunehmende Popularität des Fachs, zu der Größen wie Max Emanuel Cenčić, Jakub Józef Orliński oder Philippe Jaroussky beitrügen, nehme das Exotentum ab. Alois Mühlbacher hat sein eigenes Barockkollektiv, Ensemble Pallidor, gegründet und mit diesem gemeinsam eine erste CD – „Bachkantaten – Broken Eyes“ – herausgebracht. Im März 2026 wird er in der Kammeroper in Händels „Medea“ die Amme sein. Es läuft also.
Inspirierende Abwechslung
Das gilt auch für Johannes Schmid. „Ich habe Schauspiel, Oper und Film von Anfang an immer parallel betrieben“, so der Regisseur. „Beim Theater schätze ich, dass man nach fünf bis sieben Wochen Probenzeit zu einem bühnenreifen Ergebnis kommt und das Fantastische in den Fokus rücken kann, beim Film, dass man sich über ein Jahr lang mit einem Stoff beschäftigen kann, um in die Tiefe zu gehen und meist Realismus gefragt ist. Und die Musikalität hilft sowieso in jedem Genre.“ Zum Abschluss ein schöner Gedanke: „Jeder von uns erinnert sich auch noch nach 50 Jahren an die erste Operninszenierung, die man sehen durfte. Bei vielen Kindern aus Wien wird dies ,Vincent‘ sein. Also etwas für den Rest ihres Lebens Besonderes.“