Ein Mann und sein Klangkörper
Der Wiener Staatsopernchor ist der beste Opernchor der Welt. Sein Klang ist einzigartig. Aber: Wie wird man Chorsänger? Wie geht Chor überhaupt? Wir haben Thomas Lang, den Chordirektor, gefragt.
Er ist der Mann, der bei Premieren in der Wiener Staatsoper eigentlich immer Applaus bekommt. Egal, wie laut der Buh-Orkan von den Rängen für die Regieteams ist. Er, der Mann, der meist von der rechten Seite, den Blick immer geradeaus gerichtet, zur Mitte der Bühne schreitet und sich dann – gemeinsam mit dem Chor – verbeugt. Man spürt: Das Rampenlicht ist nicht sein natürliches Habitat. Er, das ist Thomas Lang, der Chordirektor der Wiener Staatsoper. Und der Applaus gilt nicht nur ihm, sondern dem wohl besten Klangkörper der Welt: dem Chor der Wiener Staatsoper. Wie so vieles im Haus am Ring wird auch dieses Kollektiv als selbstverständlich angesehen. Aber es ist wie bei so vielen Dingen: Erst der Blick hinter die Kulissen zeigt, wie viel Arbeit hinter dem Bieten von Exzellenz steckt.
Thomas Lang sitzt im vierten Stock der Staatsoper. Vom Chorsaal geht man einen Gang entlang, dann ein bisserl nach links, dann wieder rechts. Das Büro ist schmal. Ein Schreibtisch, ein Sessel, ein rotes Sofa. „Hier wohne ich“, sagt Thomas Lang und lacht. Wir lachen auch und dann merken wir: Er meint es ernst.
Ab 8.30 Uhr ist er meist da. „Ich muss bis kurz vor zehn Uhr das Tagesgeschäft erledigt haben, weil dann klopft es an der Tür und dann geht es den ganzen Tag durch. Proben, Meetings, Proben. Meist bis nach der Vorstellung.“ Manchmal macht Thomas Lang, Vater von zwei erwachsenen Töchtern, nachmittags einen kurzen Powernap auf dem Sofa. Manchmal steht er am offenen Fenster, schaut runter in einen der Innenhöfe der Staatsoper, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und liest Noten. Am Abend steht er in der Regel an der Seitenbühne oder ist Subdirigent oder sitzt in seinem Büro und „habe den Monitor an, höre mit einem Ohr zu und schreibe irgendwelche Dienstpläne“.
Der Chor hat 92 Mitglieder: davon 25 Sopranistinnen, 21 Altistinnen, 23 Tenöre und 23 Bässe. Das sind viele Menschen. Ein Kreis voller Profis, der klug ausgesucht sein will. Aber wie wird man dort Mitglied? Eines vorweg: Grundsätzlich sind alle im Chor ausgebildete Sänger*innen und diese Ausbildung impliziert eine Ausbildung als Solosänger*in.
Thomas Lang nickt: „Vorerst können sich deswegen auch viele Sänger*innen nicht vor- stellen, was es bedeutet, in einem Kollektiv zu singen, in dem man sich stimmlich und menschlich zurücknehmen muss.“
Thomas Lang hat in Stuttgart studiert, war in Lübeck und Wiesbaden engagiert. Seit 20 Jahren ist er Chorleiter an der Staatsoper. Über 150 Opern kann er aus dem Stand mit seinem Chor singen – in sechs verschiedenen Sprachen. Lang hat zwei erwachsene Töchter – eine davon ist Musikerin.
Was wäre ihr Wunsch ans Ausbildungschristkind?
Ich wünsche mir Menschen, die vielleicht während ihres Studiums schon Chorerfahrung gesammelt haben, die eine Beziehung dazu haben und die bewusst sagen: Ja, ich habe Spaß, meine Stimme, meine Qualität in einen Gesamtklang einzubringen.“
Aber wie kriegt man das dann hin, dass alle das tun, was man will?
Ich habe gelernt, dass man am besten fährt, wenn man versucht, sich möglichst einfach auszudrücken. Also: Das ist zu schnell gesungen, das zu langsam, das zu laut und das zu leise. Klingt sehr einfach, sollte es auch sein. (lacht)
Wie ist das bei Neueinstudierungen?
Wir arbeiten gerade an einer Oper, die erst in einem Jahr auf die Bühne kommt. Zuerst liest man die Noten, dann versucht man, wie in diesem Fall, den französischen Text richtig auszusprechen, aber dann muss man verstehen, wo es eigentlich musikalisch hingehen soll und das ist meine Aufgabe: Ich muss den Chorsängern etwas vermitteln, damit sie wissen: In einem Jahr wollen wir da oder da stehen.
Wie proben Sie? In kleinen Gruppen oder gleich mit dem ganzen Chor?
Ist es leichtere musikalische Kost, also nicht so schwer zu singen, oder haben wir das Stück schon einmal gemacht, dann fangen wir mit dem ganzen Chor zu proben an. Wenn das Stück neu ist und vielleicht auch kompliziert, dann teile ich zuerst den Chor in Gruppen auf.
Musiker setzen sich vor das Notenblatt und spielen, wenn sie wirklich gut sind. Wie ist das bei Sänger*innen?
Ich habe eingeführt, dass es beim Vorsingen auch eine Blattleseübung gibt. Das bedeutet, wir haben im Chor nicht nur wirklich gute Sänger und gute Musiker, sondern alle können gut vom Blatt lesen. Das vereinfacht das Arbeiten. Ansonsten versuche ich, bei Stellen in der Oper anzufangen, die leicht zu bewältigen sind. Das hat einen simplen Grund: Ich will nicht, dass der Chor Angst bekommt vor dem Stück. Ich will, dass sie Spaß dabei haben und das Gefühl haben, es ist schöne Musik. Tja, und wenn dann alles im Probenfluss ist, dann singt man das, korrigiert ein bisschen, dann geht man zur nächsten Stelle.
Gibt es genug Nachwuchs?
Nein. Wenn ich ein Sopranvorsingen ausschreibe, kommen hundert bis hundertfünfzig Bewerbungen. Bei Tenören sind es vielleicht zehn. Ebenso schwer sind tiefe Bässe zu finden. Baritone gibt es genügend. Tiefe Altistinnen wenige, Mezzo geht. Woran der Mangel liegt? Vielleicht an der einfachsten aller Erklärungen: Der Fokus liegt auf der Ausbildung von Solisten und in weiterer Folge liegt der Mangel daran, dass Lehrer manchen Schülern einfach nicht sagen, dass ihr Talent nicht für eine Solokarriere reichen wird. Oder auch, dass niemand sagt, wie toll Chor ist.
Man muss als Chorsänger verstehen, dass man ein Neunzigstel der Verantwortung trägt. Ein Chor ist ein Kollektiv.
Thomas Lang, Chordirektor
Es wird oft vom „Intelligenten Chor“ gesprochen. Was ist das genau?
Der „Intelligente Chor“ ist ein Kollektiv von Menschen, die wissen, dass wenn sie etwas mit derselben Vorstellung, mit derselben Attitüde tun, dann wird alles gut. Man muss als Chorsänger verstehen, dass man ein Neunzigstel der Gesamtverantwortung trägt. Ein Chor ist aber auch ein sensibles Gebilde – schlecht gelaunte oder unvorbereitete Regisseure können da schon was anrichten, weil sie dem Chor die Gelegenheit nehmen, einen guten Abend zu haben. Aber Misserfolge passieren. Ein Chorkollektiv funktioniert dann am besten, wenn es merkt, dass alle an einem Strang ziehen. Und (lacht) es hilft, dass ich älter werde und dadurch immer gelassener ...