Angelika Hager: Der nackte Papst lässt kalt
Aufregungs-Fatigue, denn die meisten Irritationsmagier sind tot oder reich oder nur müde. Um die Gen Z ins Theater zu holen, muss man andere Tricks bemühen.
Kürzlich stolperte ich auf Instagram über einen Christoph-Schlingensief-Account, der Interviewauszüge aus dem Schaffen des bereits vor 15 Jahren an Lungenkrebs verstorbenen Theaterberserkers zeigt. Es ist nicht alles schlecht in Digitalien, man kriegt oft herrliche Kulturschnipsel reingespielt.
Jeden Morgen blicke ich in meinem Schlafzimmer auf einen halben Schlingensief, sprich auf ein Foto von Ingo Pertramer, auf dem nur Schlingensiefs verschmitzt blickende Augen und die zu Berge stehende Struwwelfrisur zu sehen sind. Ich denke an seine die Stadt aufrührenden Aktionen im Burgtheater – so verstörend wie faszinierend: An Jelineks „Bambiland”, made by Schlingensief, wo ein Pornodarsteller sein Ding auf einer riesigen Leinwand exponierte, was zur wohligen Fassungslosigkeit im Zuschauerraum geführt hatte. An den Abschiebe-Container vor der Staatsoper, an das Überflutungsschwimmen vor Helmut Kohls Domizil am Wolfgangsee. Und an seine letzte große Arbeit, die Ready-made- Oper „Mea Culpa”, wo er seinem Sterben radikal, ironisch und mit wütendem Berserkertum Einhalt zu gebieten suchte. Irritiertes Kopfschütteln war in jedem Fall sein liebster Applaus. „The man they love to hate”, so nannte ihn der damalige Burg-Direktor Klaus Bachler, dessen Avantgarde-Libido wir diese Erlebnisse zu verdanken haben.
Irritationsmagier wie Schlingensief, Jonathan Meese oder Valie Export sind nirgends in Sicht – oder haben inzwischen einen musealen Hochkulturodeur wie Marina Abramović, deren Performances aktuell eine Ausstellung in der Albertina modern gewidmet ist. Die Charim Galerie zeigt parallel die Arbeiten ihres verstorbenen Langzeitpartners Ulay. Bleibt die Frage: Kann uns heute noch irgendwas schockieren in der Kunst? Nach dem Aktionismus von Schwarzkogler, Nitsch, Brus? Nach den Theaterzertrümmerungsmarathons von Castorp? Nach den in Retro-Ästhetik versinkenden Absurdistans von René Pollesch? Nach Milo Raus verlässlichen Konventionsaxtschlägen bei den Wiener Festwochen?
In meinem letzten Interview mit Claus Peymann kommentierte er die Aufregungs-Fatigue der Kulturschickeria so: „Was wollen Se denn heute noch machen? In Berlin können Sie den Papst nackt über die Bühne jagen und es wird keiner nur mit dem Ohr wackeln.”
Langweiliges Boomersplaining
Kürzlich durchpflügte ich mit meiner Tochter (31) die Theaterspielpläne der Weihnachtsferien, denn da machen wir immer in Bühnen-Quality-Time. „Warum spielen die denn immer nur dieses alte Zeug?” fragte sie und ich musste ihr insofern ein wenig recht geben, als dass die Dramaturgen möglicherweise mehr in die Erlebniswelten der Gen Z und Millennials hineinschnuppern sollten.
Wir einigten uns auf Simon Stones „Das Ferienhaus” nach Ibsen, denn der ist ein verlässlicher Modernisierungsgewinner und vergnüglich obendrein, und auf Mayenburgs „Egal”, wo die Life-Respect-Money-Balance-Problematik fantastisch erzählt wird. Auch „Das Vermächtnis” in der Josefstadt wäre ein toller Kandidat gewesen. Den üblichen Sermon, dass „Richard III.” mit dem sicherlich genialischen Ofczarek uns sehr viel über Trump erzählen wird und „Fräulein Else” angesichts der#MeToo- und Missbrauchsdebatte hohe Aktualitätstemperatur besitzt, spare ich mir. Einfach zu langweiliges Boomersplaining.