Österreich ist heute Nacht eher in Deutschland einmarschiert.“ Es ist der 1. September 1939, und Felix hatte gerade das erste Mal Sex mit Jack, einem Deutschen. Tausende Kilometer von ihm entfernt überrennen die deutschen Nazitruppen Polen, und Felix liegt nackt unter dem Zeltdach eines Zirkus in Carlsbad, Kalifornien. Zitat aus dem Buch: „Felix lachte und fand seinen Witz im selben Moment unangebracht und gar nicht komisch.“

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Wir lassen die Szene jetzt bei Ihnen einfach stehen. Der Verfasser dieses sehr wienerischen Kalauers hat uns zum Gespräch ins Café Heumarkt direkt gegenüber des Wiener Stadtgartenamts gebeten. Dass es dieses völlig abgeranzte Wiener Caféhaus noch gibt, dass dieses Relikt aus einer anderen Zeit noch überleben kann, ist ein Wunder.

Das Treffen im Café

„Die Putzmittel auf dem Beistelltisch vor dem Spiegel stehen seit Wochen dort“, sagt Christopher Wurmdobler. Die Löcher in den Lederbänken wurden mit quadratischen Lederflecken aus einem ähnlichen Material überklebt. Es gibt eine Speisekarte, aber die sicherste Vari­ante scheint Espresso oder Kräutertee.

Christopher Wurmdobler ist ein Mann, der schon viele Leben gelebt hat. Er war irgendwann in den 1990ern Teil des künstlerischen H.A.P.P.Y-­Kollektivs und veranstaltete legendäre Events. Er war bei der Tageszeitung „AZ“ Kulturkritiker und hat beim „Falter“ viele Jahre Reportagen über die Stadt geschrieben, ebenso bei „News“. Jetzt ist er – auch schon seit über zehn Jahren – Teil des Nesterval-Ensembles, der Nestroy-gekrönten Popstars der Off-Szene, und er schreibt Bücher. „Ich mache Bücher und Theater“, sagt er. Wurmdobler kann also Inszenierung. Besonders die beiläufige. Vielleicht ist auch unser Treffen im Café Heumarkt eine solche. Eine wirklich große ist sein neuestes Buch „Felix Austria“. Es ist die Geschichte eines sechzehnjährigen Wieners, der Ende der 1940er-Jahre aus Stadlau, dem „Arsch von Wien“, nach Amerika auswandert. Wobei auswandern einen Plan voraussetzt, den Felix nicht hat.

Felix Austria
„Felix Austria“ Das Buch (Czernin Verlag) wird am 30. April im Wien ­Museum präsentiert. Der Eintritt ist frei. ­Anmelden!

Ohne Geld in die weite Welt

Felix setzt sich ohne Geld in den Zug nach Hamburg, geht dort an Bord eines Schiffs, „und als Felix seine Augen wieder öffnet, war er in Amerika“. Felix schließt sich zufällig drei Zirkusleuten an, die ihn zufällig bei einem Zirkus abladen, bei dem er dann zufällig eine Karriere als Artist beginnt. Felix verliebt sich, tourt, lebt und kehrt irgendwann später wieder nach Wien zurück. Ja, könnte man sagen: Na und?

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Na ja: Wurmdobler hat mit seinem Felix Austria einen Charakter geschaffen, der – wie Roberto Benigni – durch einen seiner Filmhits torkelt mit einer ­unglaublich zielgerichteten Planlosigkeit. Felix greift zu, wenn was kommt, und auch, wenn nichts kommt.

Große komische Szenen entstehen allein durch den Umstand, dass Felix die ersten 100 Seiten kein Wort Englisch spricht. Das weltberühmte „I scream, you scream, we all scream for ice cream“ aus Jim Jarmuschs „Down by Law“ hat endlich einen würdigen Nachfolger gefunden. Wir verraten nur so viel: Es hat etwas mit dem Titel dieser Geschichte zu tun und der phonetischen Nähe von fork (Gabel) zu fuck (übersetzen wir jetzt nicht).

Seinen Nachnamen bekommt Felix im Übrigen weil er – Sie haben richtig geraten – aus Austria kommt. „Ich habe mir da selber ein Ei gelegt. Felix hat recht schnell Englisch gelernt, damit ich endlich Dialoge schreiben konnte.“ Wurmdobler lacht.

Wurmdobler
Das Caféhaus, das völlig aus der Zeit gefallen ist. Christopher Wurmdobler im Café Heumarkt, das sich erfolgreich gegen jede Gentrifizierung gewehrt hat.

Foto: Andreas Jakwerth

Schnell und am Punkt

Was beeindruckt und weit weg ist von österreichischer Gegenwartsliteratur, ist das Tempo, mit dem Wurmdobler erzählt und beschreibt, und wie er die Sprache, der Zeit anpasst, in der sein Felix gerade lebt und liebt. Etwa, als Felix nach Wien zurückkehrt und beim Film landet.

Entstanden ist die Idee zum Buch durch ein Theaterprojekt von Nesterval, das im Zirkus spielt: „Es gibt bei jedem Nesterval-Projekt einen magischen Moment. Bei diesem Stück war es, wenn  die Plane aufgegangen ist. Plane auf, die Sonne scheint. Plane auf, die Sonne geht unter. Drinnen immer das Gleiche. Außenrum hat sich die Welt verändert. Das Zirkusdorf bleibt immer gleich.“

Christopher Wurmdobler hat viel recherchiert, um das Zirkusleben der 1940er-Jahre einzufangen. Ihm ist auch da ein Volltreffer gelungen.

Die Utopie im Zirkus

Noch nie zuvor wurde das Leben der Welt vor Roncalli und Cirque du Soleil besser und intensiver beschrieben: die Radikalität dieses Soziotops, die Regeln, die Durchlässigkeit und auch die völlige Offenheit gegenüber anderen Lebensmodellen.

„Zirkus ist für mich eine Konstante in einer sich bewegenden Welt. Und das habe ich für meinen Roman genutzt, der ja in den 1940er-Jahren beginnt. Die ganze Welt ist im Aufruhr. Und der Zirkus ist eine Wahlfamilie, die man sich als gesellschaftliche Utopie denken kann, wo jeder das macht, was er besonders gut kann. Die einen kümmern sich um die Finanzen, und die anderen treten eben als Artist*innen auf.“

Und genau, weil Wurmdobler sich die Zirkuswelt als Utopie herbeischreibt, ist in dem Zirkus nicht alles so, wie es scheint, und nicht jeder das, was er vorgibt zu sein. Und um Felix eine Karriere als Artist zu ermöglichen, hat Christopher Wurmdobler ihn bereits in Wien viel Sport treiben lassen – von großem beiläufigen Humor jene Szene, in der Felix das erste Mal allein im Zelt an der Schaukel probt.

Die Liebe eines Lebens

Im Zirkus lernt Felix auch Jack, den Artisten aus Berlin, kennen und lieben – gemeinsam sind sie „The Jacob ­Brothers“. Die Liebe der beiden ist virtuos gezeichnet, bis hin zur großen und dabei sehr leisen Schlussszene des Buchs vor einem Zirkuswagen am Wiener Wilhelminenberg. Es ist die Seite 300. Auch das vermutlich kein Zufall …