Es war ein infantiler Traum eines Unterstufenschülers: einmal eine Geschichte über Penisse schreiben. György Ligetis Meisterwerk „Le Grand Macabre“ macht den kudernd-blöden Bubenwunsch wahr. Vielleicht. Aber davon später.

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Erster Stock im Arsenal, Objekt 19, in Wien. Hier ist die Bühne der Staatsoper in Echtgröße nachgebaut. Dritter Probentag. Alles scheint ganz normal. Nichts zu sehen und vor allem zu hören von dem, was Ligetis Oper durchaus zu einem Skandal machen könnte: Von Frauen, denen die Penisse ihrer Männer zu klein sind. Nichts von Frauen, die ihre Männer zum Sex zwingen. Keiner ist betrunken.

Am hinteren Rand der Probebühne der Staatsoper steht ein gelassener älterer Herr. Weißes Stehkragenhemd, weite Cargohose, Kapperl. Das ist Regisseur Jan Lauwers, 66. Der Mann, dem die Wiener Staatsoper 2021 das Meisterwerk „L’incoronazione di Poppea“ verdankte. Noch nie zuvor hat ein Regisseur Monteverdi derart bildgewaltig, erotisch und brutal inszeniert. „Als Bogdan Roščić mich gebeten hat, ‚Le Grand Macabre‘ zu machen, habe ich zu ihm gesagt: Bist du dir sicher? Denn die Staatsoper spielt ja noch immer die ‚Tosca‘ von 1958. Aber er will an der Staatsoper Risiken eingehen.“

Der Tod säuft sich zu Tode

Ist es ein Risiko? Der Inhalt ist durchaus ein schräger Grenzgang voller Witz, Erotik und großer Tiefe, die man bei einer Kurzfassung des Inhalts nicht gleich mitbekommt: In ein imaginäres korruptes Schlaraffenland – das „verfressene, versoffene und verhurte“ Bruegelland – platzt eines Tages der Tod alias Nekrotzar (Georg Nigl) alias der dämonische Große Makabre, um die unmittelbare Zerstörung der Welt und der frivolen Menschheit zu verkünden. Doch Nekrotzar verfällt zunehmend den Gelüsten der Menschen: dem Sex, dem Alkohol – und zwar so sehr, dass es am Ende nur Nekrotzar ist, der stirbt. Und die Menschheit? Die meint, dass ihr Überleben zur Beibehaltung des bis dahin geführten Lebenswandels genutzt werden sollte. Prost.

Blut schmeckt so gut

Jan Lauwers hat seine Boots ausgezogen (er ist barfuß wie die Tänzer*innen und Sänger*innen rund um ihn), nur Bariton Georg Nigl trägt Schläppchen. „Bewegt euch“, sagt Lauwers. „Bewegt euch, auch gegen euren Gesang.“

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Georg Nigl intoniert inzwischen immer wieder lautstark: „Blut schmeckt gut.“ Irgendwann dreht er sich lachend zu Tenor Gerhard Siegel: „Was ist? Du kriegst so einen depressiven Blick.“ Dann lacht Nigl mit der ganzen Kraft seiner unglaublichen Stimme laut los.

An der Seite steht Sopranistin Sarah Aristidou. Auch sie ist barfuß. Die Haare sind hochgesteckt. Sie trägt einen vanillefarbenen Overall. „Ein Sopran, dem keine Höhe zu hoch ist, der das Publikum bezwingt“, schrieb gerade eben die Kritik über ihren Gesang. Sie wird als Chef der Gepopo und als Venus ihr Hausdebüt an der Staatsoper feiern. „Wir sind zwar erst am dritten Probentag, aber ich finde die Arbeitsweise von Jan Lauwers großartig. Er hat ganz konkrete Ideen, aber er lässt uns gleichzeitig Raum, dass man selbst etwas anbieten kann. Er schaut sich ganz genau an, wie jeder von uns ist. Ich habe am ersten Probentag angefangen, mich ganz viel zu bewegen. Da hat er mich angeschaut, geschmunzelt und gesagt: ‚Du bist ein ‚good mover‘. Ich finde das extrem spannend, ich glaube, genau das braucht diese Oper.“

Jan Lauwers
Der Regisseur und der Maler. Jan Lauwers, 66, vor einem jener Gemälde Bruegels, die eine Vorlage für die Regie bei der Oper „Le Grand Macabre“ sind. Von 2009 bis 2014 war die von ihm gegründete Needcompany Artist-in-Residence am Wiener Burgtheater. 2012 wurde Jan Lauwers mit dem „Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ ausgezeichnet, und 2014 wurde er mit dem „Goldenen Löwen für sein Lebenswerk“ bei der Biennale von Venedig geehrt . „L’incoronazione di Poppea“ war seine erste Operninszenierung. Jan Lauwers studierte Malerei an der Kunstakademie in Gent.

Foto: Marcel Urlaub

Triggerwarnung

Wenige Minuten später sitzen wir mit Jan Lauwers allein in einer Ecke des Raums: „Ich will die Sänger, den Chor, die Tänzer an ihre Grenzen bringen. Diese Oper ist ein Statement. Sie ist ein Schlag ins Gesicht. Das ganze Stück ist ein Bombardement der Gefühle. Der Komponist John Cage hat einmal gesagt, dass man fünf Energiequellen für eine gute Arbeit braucht. Hier haben wir es mit vierundzwanzig Energiequellen, die gleichzeitig sprudeln, zu tun. Ich glaube, es ist ein Stück, das perfekt in diese Zeit passt. Ich kann und werde nichts machen, nur um jemandem zu gefallen. Ich möchte dem konservativen Publikum sagen: ‚Kommen Sie und versuchen Sie, Ihren Geist zu öffnen. Wenn Sie das nicht können, dann bleiben Sie lieber zu Hause.‘“ – Sätze, wie sie Ligeti gefallen hätten.

Liebe zum Exzess

„Ich mag es, wenn Dinge auf die Spitze getrieben werden“, sagte György Ligeti in einem Interview. 1923 wurde Ligeti in Siebenbürgen geboren, er studierte zuerst in Cluj, später in Budapest Komposition. Sein Vater und sein Bruder wurden im KZ von den Nazis ermordet, nur seine Mutter überlebte Auschwitz. Nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 floh er nach Österreich und wurde österreichischer Staatsbürger. Er komponierte und unterrichtete in Berlin und Hamburg. 2006 starb er in Wien. Einer der größten Fans von Ligeti war Hollywood-Regielegende Stanley Kubrick. Ligeti meinte dazu: „Ohne mein Wissen hat Kubrick meine Musik genommen, ohne Erlaubnis, ohne zu zahlen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Aber prinzipiell finde ich es in Ordnung, selbstverständlich. Ich bin ein begeisterter Anhänger von Kubrick, und er war ein Anhänger von mir. Nur wusste ich das nicht.“

Isabel Signoret

Isabel Signoret stellt sich vor

Ihr Vorbild ist Elīna Garanča, sie ist seit September 2023 im Ensemble der Staatsoper und steht demnächst für Le Grand Macabre auf der Bühne: Hier stellt sich Isabel Signoret vor. Weiterlesen...

Die Opulenz Bruegels

Zurück zu „Le Grand Macabre“ und wie es Jan Lauwers auf die Bühne der Staatsoper bringen möchte. In der Probebühne hängen an der Wand zwei Ausdrucke von Bruegel-Gemälden. Lauwers: „Alle Farben, die Kostüme, die Szenerie sind mit den Bildern von Bruegel verbunden. Jede Einstellung, jede einzelne der Körperarbeiten ist inspiriert von ihm. Schauen Sie sich doch seine Gemälde an, diese Art, wie Bruegel sie radikal komponiert hat. Niemand hat das je zuvor so gemacht und niemand danach. Man darf nicht vergessen: Es war damals die Kleine Eiszeit. Die Menschen waren hungrig, sie waren verzweifelt, es war hundertmal schlimmer, als es in Zeiten von Corona war. Viele Menschen starben, verhungerten. Und dann schaut man auf die Bilder Bruegels – und sie sind voller Essen. Das war Fake. Das war ein Befehl des Auftraggebers: Er wollte in seinem Schloss Bilder von Essen, weil es keines gab.“

Wie bewegt man Bruegels Bilder?

Wer einmal ein Bruegel-Bild genauer betrachtet hat, weiß, dass man Zeit braucht, um das Ganze zu erfassen, die Vielzahl der Handlungen. Der Vorteil von Gemälden: Sie bewegen sich nicht. Handlungen finden einfach statt und ändern sich nicht. Eine etwas banale Erkenntnis. Aber wie setzt man die auf der Bühne um?

Jan Lauwers: „Ich arbeite immer mit einer dezentralen Strategie, das bedeutet: Es muss kein Handlungszentrum geben. Man muss sich als Publikum nicht immer auf ein Detail konzentrieren. Jungen Menschen gelingt es leichter, von einem Handlungszentrum zum anderen zu switchen, sie sind es gewohnt. Es liegt an mir, die richtige Balance zwischen den Stimmen und dem Geschehen zu finden.“

‚Le Grand Macabre‘ ist ein Statement. Ein Bombardement der Gefühle.

Großer Ballettkörper

Während wir reden, kommt eine Gruppe von Tänzer*innen in den großen Saal der Probebühne und beginnt, sich aufzuwärmen. Lauwers wird also wieder, wie in „L’incoronazione di Poppea“, mit vielen Tänzer*innen arbeiten. Warum?

„Schauen Sie sich die Bilder Bruegels an. Da sind so viele Menschen zu sehen. Jedes Detail ist ein Körper. Genau das brauchen wir auch für die Oper. Meine Wurzeln liegen in der bildenden Kunst. Meine ganze Arbeit ist bildende Kunst. Wenn ich Musik höre, dann beginne ich zu malen, und manchmal werden diese Ideen zu einem Theaterstück oder zu einer Opernarbeit. Mein ganzes Leben ist Kunst, und ich habe eine starke Verbindung zu ‚Le Grand Macabre‘, weil ich in erster Linie eine starke Verbindung zu der Vision von Ligeti spüre. Als Regisseur sehe ich mich als Diener Ligetis. Ich habe versucht, mich genau an das zu halten, was er gesagt hat, und ich habe nichts verändert. Das ist der Unterschied zum Künstler Lauwers: Wenn ich ein Künstler bin, dann erschaffe ich ein Kunstwerk von null an.“

Akrobatische Koloraturen

Den großen Komponisten und seine Musik zu spüren ist eine Sache, seine Melodien zu singen eine ganz andere. Mit fünf Jahren hat Sarah Aristidou begonnen, vom Blatt zu singen, mit sieben konnte sie Partituren lesen.

„Ich liebe diese Oper und fühle mich wie ein Kind, wenn ich sie höre. Die Rolle des Chefs der Gepopo ist ein Feuerwerk an Koloraturen und Akrobatik, wahnsinnig herausfordernd, sowohl mental als auch körperlich. Daraus ergibt sich die Frage an mich selbst: Wie weit gehe ich körperlich, ohne dass es meine Stimme beeinflusst? Ich habe gelernt, mich von diesem technisch sehr schwierigen Rhythmus zu befreien und das eher wie einen Tanz zu nehmen. Es gibt viele Rhythmuswechsel. Wenn man sich das nicht Note für Note ansieht, sondern das Ganze – es ist wie das Leben. Die Venus wiederum schwebt ganz in ihrer Höhe, das sind ganz lange Linien. Ich finde es sehr spannend, wie Jan Lauwers sie inszeniert. Ich will nichts verraten, aber ich finde es super.“

Sarah Aristidou
Sarah Aristidou in der Kulisse der Probebühne im Arsenal. Sie ist eine der großen neuen Entdeckungen und feierte als Zerbinetta ihr Debüt. Sie ist in Frankreich geboren und hat zypriotische Wurzeln. Mit fünf Jahren konnte sie bereits vom Blatt singen, mit sieben konnte sie Partituren lesen. Eines ihrer großen Vorbilder ist Edita Gruberová. Aristidou hat bereits zwei CDs eingespielt und lebt in Island, auf Ibiza und in Berlin.

Foto: Marcel Urlaub

Aristidou ist eine zypriotisch-französische Sängerin, sie lächelt, lässt den Teaser im Raum stehen.

Reden wir endlich über Sex

Langsam kommen wir zum Ende und zur Sache. Das Stück ist – auch – eine Orgie. Jan Lauwers: „Die Oper entstand in den Siebzigern. Wir hatten Sex, wir rauchten Dope, wir tranken Alkohol. Sogar der Vietnamkrieg brachte schöne Songs hervor. Wir hatten Spaß. Heute haben wir keine sexuelle, sondern wir haben eine Gender-Revolution. Wir leben in einem wirtschaftlichen Tiefpunkt – und in den Siebzigerjahren war ein Hoch. Alle waren glücklich, alles war gut. Und jetzt geht es bergab. Die junge Generation fragt sich: Was machen wir auf diesem Planeten? Das Thema der sexuellen Identität ist ein weiteres Problem, das dazukommt. Ich arbeite in ‚Le Grand Macabre‘ mit vielen jungen Menschen zusammen, und wir reden über all diese Dinge.“

Wie können wir den Spaß in die Gesellschaft zurückbringen? Ganz einfach Kaufen Sie ein Ticket für Le Grand Macabre.

Die Sache mit dem Planeten

Jan Lauwers versteht zu erzählen. Immer wieder macht er Pausen, als würde er schauen, ob sein Gegenüber auch folgen kann, und er macht es ziemlich spannend.

Also, was ist jetzt mit dem Sex?

„In der zweiten Szene geht es nur um Sex – die kann man aber so nicht mehr machen. Zwei schwache Männer und eine betrunkene Frau, die nach einem großen Penis lechzt. Warum weint sie nach einem größeren Schwanz? Warum wird sie zweimal getötet? In den Siebzigern war das Sarkasmus, vielleicht auch schlechter Geschmack, vielleicht wollte Ligeti provozieren. Heute muss man das alles hinterfragen – wenn wir sagen: ‚Wir gehen mit dem Planeten in die falsche Richtung‘, und dann betreten wir die Oper, und da heißt es dann: ‚Kein Problem, Leute, lasst uns saufen.‘“

Lauwers macht wieder eine Pause, grinst und sagt: „Ich werde keine Antwort geben. Weil Ligeti keine Antwort gibt.“

Hier zu den Spieltermine von Le Grande Macabre!