Passionierter Ausdruck. „Ich liebe es, in Rollen zu schlüpfen und darin aufzugehen“, ist Seth Carico glücklich darüber, beim Fotoshooting nicht ganz er selbst sein zu müssen. Wiewohl sich die Proben zu diesem Zeitpunkt erst im Anfangsstadium befinden, hat der charismatische US-Bassbariton mit Wohnsitz Berlin „seinen“ Charakter schon ziemlich gut internalisiert.

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Er verkörpert in Miroslav Srnkas zeitgenössischer Oper „Voice Killer“ – einer Auftragsarbeit des MusikTheaters an der Wien, die am Freitag, dem 13. Juni, zur Uraufführung gelangt – die Titelrolle. Und zwar den Soldaten Eddie Leonski, der, während des Zweiten Weltkriegs auf einer amerikanischen Militärbasis in Melbourne stationiert, ebendort drei Frauen ermordete und anschließend in einer Blitzaktion der Army hingerichtet wurde. Eine komplexe, herausfordernde, verstörende Partie, denn womöglich war der damals 25-Jährige auf der Suche nach einer weiblichen Stimme, die der seiner Mutter nahe kommen hätte sollen. Weil er diese nicht gefunden habe, mussten seine Opfer sterben. So lautet zumindest eine Theorie. Die wahren Motive, so es solche überhaupt nachvollziehbar gegeben hat (denn Eddie Leonski war mental ramponiert), ließen sich nie ganz eruieren.

In Australien ging der schaurige Fall in die Kriminalgeschichte ein, im Rest der Welt ist er nahezu unbekannt, was daran liegen mag, dass die US-Armee kein Interesse an einer Verbreitung der Fakten hatte. Denn Soldaten, die in befreundeten Ländern Frauen töten, wirken selten imagefördernd.

„Mich hat dieser Charakter von Anfang an interessiert, also habe ich zu recherchieren begonnen“, erzählt Seth Carico im Interview. „Gerade wenn ich einen Verbrecher spiele, muss ich nachvollziehen können, wie dieser Mensch so weit kommen konnte. Es gibt nicht sehr viel Material zu ihm, mir haben eine Dokumentation und das Buch ‚Murder at Dusk‘ sehr weitergeholfen. Er wuchs in New York ohne Vater auf (er hatte die Familie verlassen), seine Mutter heiratete noch einmal und bekam mit ihrem zweiten Mann weitere Kinder. Dieser Stiefvater war gewalttätig, die Mutter trank, auch seine Geschwister hatten große Probleme.

Er idealisierte seine Mutter stark, die auf bizarre Art die einzige Konstante in seinem Leben war, bekam aber nie vorgelebt, wie eine gesunde Beziehung überhaupt aussehen könnte. Als er älter wurde, trainierte er intensiv und beeindruckte die Leute mit seiner physischen Präsenz. Er lief in Bars im Handstand über die Theke und benahm sich wie ein Kind. Wahrscheinlich blieb er auf dem geistigen Level eines etwa Fünfjährigen. Zugleich war er, wie auch seine Mutter und einer seiner Brüder, schizophren und sicherlich Alkoholiker.“

Eine hochexplosive Mischung. Dass er gut aussah, ein freundliches, offenes Gesicht hatte und als charmant galt, muss in diesem Zusammenhang als eindeutiger Nachteil gesehen werden, da es ihm die Kontaktaufnahme mit seinen späteren Mordopfern wesentlich erleichterte.

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Seth Carico
Styling: POLOSTRICK VON DRESSLER VIA PEEK & CLOPPENBURG, BRILLE STYLIST OWN, KRAWATTE & HOSE VINTAGE VIA BURGGASSE24/BURGI, SOCKEN VON FALKE, LOAFERS VON HUGO BOSS;

Foto: Marcel Urlaub

Perfekte Besetzung

„Seth Carico war meine erste Wahl für die Rolle“, erklärt Komponist Miroslav Srnka, der von dieser Geschichte durch seinen australischen Librettisten Tom Holloway erfahren hatte und sich ihrer ebenfalls nicht mehr entziehen konnte.

„Wenn unser Protagonist, der im Stück nach der Bezeichnung für den niedrigen militärischen Rang, den er bekleidet hat, übrigens nur Private heißt, weil wir den Fokus auf die Opfer – Ivy Violet McLeod, Pauline Thompson und Gladys Hosking – legen wollen, so etwas wie Entspannung verspürte, begann er selbst eine hohe Frauenstimme zu imitieren. Wir brauchten also einen Sänger, der mit seinem Falsetto in engem Kontakt steht. Und das tut Seth, der seinen großen Durchbruch als Kassandra in Iannis Xenakis’ ‚Oresteia‘ hatte, wo er stimmlich faszinierende Höhen gezeigt hat. Zugleich wächst sein Bariton immer mehr in die Wotan-Kategorie. Er kann also sowohl das Falsetto-Register ziehen als auch einen mächtigen Bariton produzieren, was sehr selten ist.“

Genau diesen Bruch brauche es für die Dramatik der Partie.

„Für mich ist das gesanglich natürlich die große Herausforderung“, so Seth Carico. „Zum Glück hatte ich während des Studiums einen Professor, der täglich Falsetto-Übungen integriert hat, um so gewisse Elemente der Stimme zu stärken. Deshalb ist meine Höhe gut ausgebildet – und mittlerweile bin ich auch bekannt dafür.“

Seth Carico
Seth Carico beim BÜHNE-Covershooting im Resselpark.

Foto: Marcel Urlaub

Clickbait-Society

Miroslav Srnka erläutert, er habe die Geschehnisse in seiner Komposition abstrahiert und konzentriere sich auf essenzielle Fragen wie: Warum ist eine solche Gewalt gesellschaftlich möglich? Wann haben wir aufgehört, Opfer zu schützen? Weshalb wurden all die Warnzeichen, die es gab, ignoriert?

„Die Rolle der Gesellschaft übernimmt der Chor und repräsentiert dabei unsere heutige Clickbait-Society. Das heißt, er stößt die ganze Oper hindurch fast nur einsilbige Laute aus, die der vereinfachten und emotionsgeladenen Internet-Reaktion ähneln, die jegliche Komplexität von Lösungen ausschließt. Dieses digitale Verhalten erzeugt einen Überhype, dann aber auch wieder ein schnelles Vergessen, sodass eine tiefergehende Beschäftigung mit solchen Fällen nicht mehr möglich ist – und damit auch die Verhinderung künftiger Morde.“

Er habe gemeinsam mit Librettist Tom Holloway versucht, die Lebensumstände jeder der drei Frauen, die Private umgebracht hat, zu rekonstruieren, um auch ihre Vorgeschichten erzählen zu können.

„Ihre Stimmen verstummen bei uns auch nicht einfach, sondern verwandeln sich in jene Figuren, die den Mörder letztendlich entlarven konnten. Eigentlich überleben am Ende nur die Frauenstimmen.“ Diese symbolische Umkehr leugne aber nicht die grausige Realität – ohne dass der Akt des Mordens voyeuristisch sei.

Cordula Däuper
Cordula Däuper studierte Musiktheater- Regie und inszeniert Oper, Operette und Schauspiel. Neben zentralen Werken des Repertoires – u. a. „Rigoletto“, „Così fan tutte“ oder „Die Zauberflöte“ – realisierte sie mehrere Uraufführungen, wie zuletzt „Die Reise zu Planet 9“ von Pierangelo Valtinoni.

Foto: Jana Kay

Keine Glorifizierung

Regisseurin Cordula Däuper betont, dass sie ebenfalls kein Interesse daran gehabt habe, eine Oper über das Faszinosum Serienkiller zu machen. „Befeuert durch diverse TV-Serien werden Figuren wie Ted Bundy oder Jeffrey Dahmer gerade sehr glorifiziert. Eddie Leonski wurde für einen Mehrfachtäter zum Glück relativ früh gestoppt. Die Biografien seiner Opfer sind interessant, weil das drei selbst-
bewusste, unabhängige Frauen waren, die Berufe ausübten und ihr Leben selbst gestaltet haben. Eine von ihnen hatte knapp vor der Tat alleine eine Weltreise unternommen, was für eine Frau in den
1940er-Jahren außergewöhnlich war. Oft spielt bei Serienkillern der Zufall eine große Rolle. Eine der Frauen musste sterben, weil ihre Straßenbahn zu früh abgefahren und sie so dem Mörder überhaupt begegnet war. Unser Fokus liegt darauf, dass es sich um Menschenleben gehandelt hat, die er beendete. Diese Art der Erinnerungskultur ist immens wichtig. Es geht zudem um Mitschuld und Verantwortung, darum, dass auch ein Serienkiller Teil der Gesellschaft ist und wir uns fragen müssen, wie es überhaupt zu derlei Taten kommen kann.“

Seth Carico
„Wenn ich einen Verbrecher spiele, muss ich nachvollziehen können, wie dieser Mensch so weit kommen konnte.“ Seth Carico, Opernsänger

Foto: Marcel Urlaub

Wie wichtig ein solches „Zurechtrücken“ ist, zeige unter anderem ein YouTube-Video, auf das sie bei ihren Recherchen gestoßen sei.

„Man kann in Melbourne die Gefängniszelle besuchen, in der Eddie einsaß, und sich sogar darin kurzfristig einsperren lassen, quasi als Thrill. Eine Frau, die dort als Guide arbeitet, hat sich selbst gefilmt und berichtet über ihre Arbeit, dabei hält sie lachend ein Foto des Täters in die Kamera und meint, diesen attraktiven Mann würde sie auf einer Dating-App sicher nicht wegwischen. Die Tatsache, dass er drei Menschenleben ausgelöscht hat, wird höchstens noch als Randnotiz wahrgenommen.“

Wir legen den Fokus auf die Opfer, um ihnen symbolisch eine Stimme zu geben: Ivy Violet McLeod, Pauline Thompson und Gladys Hosking.

Miroslav Srnka, Komponist

Der Fall des Eddie Leonski, betont Seth Carico, habe neben seiner individuellen und politischen Dimension auch eine juristische gehabt.

„Soweit ich weiß, wurde erstmals in der amerikanischen Rechtsprechung darüber diskutiert, ob man einen geistig eingeschränkten Menschen hinrichten darf. Eigentlich hätte er der australischen Justiz übergeben werden müssen, denn die Morde passierten in Melbourne. Dass sich das Militär selbst darum gekümmert hat, liegt daran, dass man internationale Schlagzeilen unbedingt vermeiden wollte.“

Diese „Keep it quiet“-Strategie sei auch der Grund, warum über die Taten außerhalb Australiens lange kaum jemand Bescheid wusste. Was sich durch Miroslav Srnkas Oper nun noch weiterhin ändern könnte.

Seth Carico
Seth Carico in Action. / STYLING: BRILLE VON PRADA, HEMDEN VON BOSS VIA PEEK & CLOPPENBURG, STRICKSHORTS VON GIOVANNI LIBRO, SOCKEN VON HAPPY SOCKS

Foto: Marcel Urlaub

Stimme mit Charakter

Seth Carico freut sich nicht zuletzt auch deshalb sehr auf diese Rolle, weil sie ihm darstellerisch viel abverlangt. „Denn eigentlich wollte ich Schauspieler werden. Ich war als Kind ein wenig verloren, hatte nicht viele Freunde und habe nirgendwo richtig dazugehört.“

Aufgewachsen in einer 7.000 Einwohner zählenden Kleinstadt in den Bergen von Tennessee, nahm er im örtlichen Community Theatre an einer Aufführung von „The King and I“ teil.

„Dabei musste ich als Neunjähriger über eine Treppe fallen, und als 700 Menschen im Publikum zu lachen begannen, dachte ich, dass ich meine Bestimmung gefunden hätte. Erst als ich mit 17 Jahren meine erste Oper gesehen habe, hat sich mein Berufswunsch in Richtung Sänger gewandelt. Wie fast jeder Opernsänger aus dem Süden der USA habe auch ich in der Kirche zu singen begonnen. Meine Heimatstadt ist quasi die Schnalle des Bibelgürtels.“

Miroslav Srnka
Miroslav Srnka studierte Musikwissenschaft und Komposition, zählt zu den wichtigsten Tondichtern seiner Generation und erhielt für seine Arbeiten – darunter die Opern „Make No Noise“ und „South Pole“ – bedeutende Auszeichnungen. Er ist Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.

Foto: Kaupo Kikkas

Aufgrund seines ungewöhnlichen Werdegangs habe er bis heute eine nicht gänzlich gezähmte Stimme. „Es gab eine Zeit, da habe ich alles versucht, um meine Stimme zu verfeinern. So sehr, dass sie am Ende nichts Außergewöhnliches mehr hatte.“ Inzwischen tue er zwar alles, um exzellent zu klingen, verleugne aber nicht mehr jene Aspekte, die seine Stimme interessant machen. „Manchen ist sie noch immer zu ‚wild‘. Aber wenn 50 Prozent imv Publikum das mögen, bin ich schon zufrieden.“ Denn einen überzeugenden Sänger mache nicht bloß seine Technik aus. „Ein wirklich guter Sänger ist jemand, der die Wahrheit erzählt.“

Hier zu den Spielterminen von Voice Killer im MusikTheater an der Wien!