Flatternd, vibrierend, diabolisch, wie unter Strom. Kritiken und Beschreibungen von Marco Goeckes Choreografien malen zunächst ein düsteres Bild. Aber wie das so oft ist, werden Worte Emotionen nicht gerecht. „Die Tänzerinnen und Tänzer sind häufig überrascht, wie lustig ich bei der Arbeit sein kann“, sagt Goecke.

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Diese Diskrepanz aus vorauseilendem Ruf und Wirklichkeit gilt auch für seine Arbeit. Der Deutsche öffnet mit seinen Werken Tore zu anderen Welten, in die das Publikum für die Dauer eines Abends blicken darf. Die Wirkung dieser Ausflüge ist erfrischend. Das Wiener Publikum kann sich auf die Urauf­führung seines Werks zu Gustav Mahlers 5. Symphonie in cis-Moll freuen. Die Premiere ist am 14. November in der Wiener Staatsoper zu sehen. 

Choreograf des Jahres

Eingebettet ist Marco Goeckes Choreografie in Arbeiten von Martin Schläpfer, dem Direktor des Wiener Staatsballetts, und George Balanchine (1904–1983), dem Begründer des neoklassischen Balletts. Grundidee der Programmierung ist es, verschiedene Stile und Sichtweisen auf den Tanz zu konfrontieren, ohne dabei die Werke gegeneinander auszuspielen. Das wird auch eine gute Gelegenheit für die Tänzer:innen des Wiener Staatsballetts sein, einmal mehr ihre Brillanz und Vielseitigkeit zu ­zeigen.

Dass der Wiener Staatsoper mit Goeckes Engage­ment eine Sensation gelungen ist, zeigt auch eine aktuelle Auszeichnung. Erst diesen Sommer wurde der 49-Jährige vom Fachmagazin „tanz“ zum Choreografen des Jahres gewählt. Der zunächst dem Stuttgarter Ballett, dann auch dem Nederlands Dans Theater und Gauthier Dance als Haus-Choreograf verbundene und seit 2019/20 das Staatsballett Hannover leitende Künstler zählt jedoch seit fast zwei Jahrzehnten zu den bedeutendsten Choreografen.

Davide Dato, Tariello und Menha bei den Proben zu „Im siebten Himmel".

Foto: Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Von Marco Goeckes mehr als hundert Werken befinden sich viele im Repertoire ­renommierter Compagnien, er prägt den zeitgenössischen Tanz nachhaltig. Im Gespräch mit der ­BÜHNE zeigt sich der Künstler bescheiden: „In den vergangenen 22 Jahren habe ich an die hundert Stücke gemacht. Und dennoch, immer wenn ich in den Ballettsaal reingehe, dann weiß ich nicht, wie es geht. Ich höre dann auf die Sprache meiner Schritte. Ich habe mein Handwerk, an das ich mich halten kann.“

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Keine Sonnenlichtkunst

Woher kommt das rasante Tempo seiner Choreografien, das seine Tänzer:innen meist solistisch bestreiten? Zum einen verortet sich Goecke in der „Generation MTV“. Der US-Musiksender prägte die visuelle Sprache mit schnellen Schnitten. Zum anderen entstand es, so Goecke, aus einer Angst heraus, dass Langsamkeit langweilig werden könnte. Meist wird zu gedimmtem Licht getanzt. „Theater ist für mich keine Sonnenlichtkunst. Theater findet in der Nacht statt. Man würde ein Rendezvous ja auch nicht in grellem Neonlicht begehen.“ 

Am liebsten arbeitet Marco Goecke zu Pop oder Jazz, hat aber auch schon zu fast allen Komponisten choreografiert. Von Popkultur ist das Adagietto in Mahlers Fünfter ohnehin nicht weit entfernt, da es durch die Visconti-Verfilmung „Tod in Venedig“ wohl jedem im Ohr ist. „Musik, die schon derart in die Mangel genommen wurde, dass man ihre Schönheit gar nicht mehr erlebt, interessiert mich sehr. Wenn es mir gelingt, mit meinen eigenen Bildern solche Werke neu zu besetzen, kann man sie auch wieder neu hören“, sagt er. 

Himmlische Tänze

Das erwartet das Publikum noch: Der Abend wird mit Schläpfers Neufassung seines 2006 kreierten Balletts „Marsch, Walzer, Polka“ eröffnet. Mit der „Neuen Pizzicato-Polka“, op. 449, wird eine weitere Nummer in den Reigen berühmter Strauss-Tänze integriert. Susanne Bisovsky schuf dafür die Kostüme, die für ihre Arbeiten ganz typisch zwischen Avantgarde und Tradition changieren.  

Den Abend beschließt George Balanchines „Symphonie in C“. Zu Balanchine sagt Goecke: „Seine Reduktion und Ab­straktion waren schon ein sehr wichtiger Schritt für das Ballett. Er hat den Tanz neu belüftet.“ 

Es ist diese frische Brise, die ebenso Goeckes Arbeit prägt. Inspiration schöpft er aus einer Sehnsucht und beschreibt das Gefühl so: „Tanz darf sich nicht in blöder Dekoration verlieren. Ich will die Welt ein Stück weit umstellen, etwas wegnehmen, das belastet. Meine Arbeit ist für mich Erlösung und Sinngebung.“

Marco Goecke wurde gerade erst zum Choreographen des Jahres gewählt. Nun wird erstmals eine seiner Choreographien vom Wiener Staatsballett getanzt.

Foto: Regina Brocke

Zur Person: Marco Goecke

Seine Ballettausbildung absolvierte Marco Goecke ab 1988 an der Ballettakademie der Heinz-Bosl-Stiftung in München sowie am Königlichen ­Konservatorium Den Haag. Seit 2000 arbeitet er als Choreograf. Der Wuppertaler ist seit der Spielzeit 2019/20 Ballettdirektor der Staatsoper Hannover. Goecke wurden mehrere internationale Preise zugesprochen.