Wer das Dach des Wiener Volkstheaters erklimmen möchte, muss zuerst aufs Klo. Natürlich nicht so, wie Sie sich das jetzt vielleicht vorstellen. Dann aber irgendwie doch, denn der Weg auf die grünen Dachflächen des ansonsten strahlend weißen Prachtbaus führt über eine schmale Eisentreppe, die sich in einer der Toiletten befindet. Das klingt nicht nur nach Harry Potter, sondern fühlt sich tatsächlich auch so an. Ebenjenen abenteuerlichen Weg legen wir zurück, um Lisa Kerlin, die neue Leiterin des Volkstheaters in den Bezirken, zu fotografieren. Es ist heiß. Der Hochsommer hat sich gegen einen sanften Ausklang und für einen Abschied mit Pauken und Trompeten entschieden.

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Alle packen mit an

Nach einem mindestens ebenso spektakulären Abstieg sitzen wir im schattigen Gastgarten des Café Liebling. Dass Lisa Kerlin über den wiederhergestellten Bodenkontakt froh ist, sollte nicht mit zu viel Symbolik aufgeladen werden, verrät aber dennoch einiges über die 1985 in Deutschland geborene Dramaturgin und Theatermacherin. Es passt zu ihren Aussagen wie „Ich glaube, dass Theater immer politisch ist. In der Sekunde, wo jemand das Wort erhebt und andere Leute nichts sagen und zuhören, haben wir eine politische Situation“. Und auch dazu, dass der Wunsch, das Volkstheater in den Bezirken zu leiten, von ihr selbst ausging.

Der Gedanke sei während der vergangenen Spielzeit, in der sie als Dramaturgin an mehreren Produktionen beteiligt war, in ihr gereift, erzählt sie. „Es gab schon Momente, in denen ich mich gefragt habe, was ich da eigentlich tue, aber die Faszination dafür, das Theater so nah zu den Menschen bringen zu können, hat überwogen“, erinnert sie sich. Auch der hohe Improvisationsanspruch, der den Tourneen durch die Bezirke inhärent ist, störe sie nicht. Ganz im Gegenteil. „Das ist einfach ein All-hands-on-deck-Projekt, bei dem alle mitanpacken müssen. Man kann nicht fürs Volkstheater in den Bezirken arbeiten und es sich dann hier im Büro gemütlich machen“, bringt sie ihre Herangehensweise auf den Punkt.

Zwischen Leichtigkeit und Tiefgang

Die Rückmeldungen des „sehr Feedback-freudigen“ Bezirke-Publikums hat sie ernst genommen. „Es gab Zuschauer*innen, die meinten, dass sie sich mehr Unterhaltung wünschen. Diesem Wunsch möchten wir nachkommen, dabei aber nicht in den Boulevard abrutschen, denn das meinen die Menschen damit auch gar nicht. Wir versuchen nun, die Leute abzuholen, indem wir bekanntere Stücke zeigen. Ich glaube, dass auf diese Weise eine gewisse Leichtigkeit entstehen kann“, fasst Lisa Kerlin zusammen.

Lisa Kerlin
Das Volkstheater in den Bezirken: Seit 1954 sorgt die Bezirke-Schiene des Volkstheaters für kulturelle Nahversorgung in der ganzen Stadt. Beim Großteil der insgesamt 15 Spielstätten handelt es sich um Veranstaltungssäle der Wiener Volkshochschulen. Seit dieser Spielzeit leitet Lisa Kerlin das Volkstheater in den Bezirken, das mit der Idee gegründet wurde, ein flächendeckendes, leistbares Theaterangebot zu schaffen, das tief in der Stadt verwurzelt ist. Heuer feiert das Volkstheater in den Bezirken seinen 70. Geburtstag.

Foto: Marcel Urlaub

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Zum ersten Mal wird es mit „Der kleine Prinz“ auch ein Kinderstück in den Bezirken geben. Ein Angebot, das Schulklassen den Theaterbesuch erleichtern soll. Es sei ein Versuchsballon, so Kerlin, die jedoch zuversichtlich ist, dass das Stück gut angenommen wird. Das erhofft sie sich auch von der zweiten Neuerung: „In Kooperation mit den Wiener Pensionist*innenclubs bringen wir Schnitzlers ‚Leutnant Gustl‘ zu all jenen, die den Weg ins Theater nicht mehr schaffen.“

Als Auftakt wird Sören Kneidl „Frankenstein“ inszenieren und gemeinsam mit zwei Musikern auch selbst auf der Bühne stehen. In einer Koproduktion mit Kaja Dymnickis und Alexander Pschills Bronski & Grünberg schickt das Volkstheater außerdem Peter Shaffers „Amadeus“ auf Tour. „Ihre Stücke sind politisch, temporeich, humorvoll und unheimlich gut gemacht“, schwärmt Lisa Kerlin. Ihr Wunsch an Regisseurin Mira Stadler war es, eine Inszenierung auf die Beine zu stellen, die schnell ist und die Theatermittel offenlegt. Die Wahl fiel schließlich auf Alfred Hitchcocks „Die 39 Stufen“. Als letztes Stück der Saison bringt Autor und Regisseur Felix Krakau eine „Elektra“-Überschreibung auf die Bühne, die den Fokus auf das Thema Familie legt und das Publikum mit den Mitteln des Theaterchors direkt anspricht.

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Das Publikum umarmen

Krakaus kleiner Chor ist jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten, jene Nähe zum Publikum herzustellen, die Lisa Kerlin und ihrem Team so wichtig ist. Ein wichtiger Schlüssel ist, immer mitzudenken, wo man spielt, bringt es die Wahlwienerin auf den Punkt.

„Es bedeutet etwas, ob ich in so einem Repräsentationskasten wie dem Volkstheater spiele oder in den Spielstätten der Bezirke. Das sind ganz andere politische Orte. Außerdem merkt man in Spielstätten, die nicht für das Theater gebaut wurden, die Theaterverabredung sehr viel stärker. Deshalb haben wir uns im Zuge der Programmierung ein kleines Dogma überlegt, das besagt, dass uns die Ansprache des Publikums und auch die Offenlegung der Theatermittel wichtig sind. Ich halte es für essenziell, sich immer wieder die Frage zu stellen, was es eigentlich bedeutet, dass man gemeinsam an einem bestimmten Ort zusammengekommen ist. Wenn das im Theater nicht passiert, spüre ich das sofort. Weil das auch immer heißt, dass das Publikum wurscht ist. Wir wollen aber, dass sich die Leute, die zu uns kommen, umarmt fühlen.“

Durch ihre Arbeit für das Volkstheater in den Bezirken sei sie ihrer Wahlheimat sehr viel näher gekommen, merkt Lisa Kerlin abschließend an. „Ich weiß natürlich, dass ich keine Wienerin bin, und tue auch nicht so, als ob. Entscheidend ist, das im Bewusstsein zu haben, zuzuhören und nicht zu denken, man könnte jemandem die Stadt erklären. Ich finde Wien großartig und möchte in keiner anderen Stadt leben.“ So schnell kann aus Nähe eine innige Umarmung werden.

Zur Person: Lisa Kerlin

Die studierte Komparatistin und Theaterwissenschaftlerin arbeitete in der freien Szene und am Schauspiel Dortmund, bevor sie – zunächst als Referentin und dann als Dramaturgin – ans Wiener Volkstheater wechselte. Seit dieser Spielzeit leitet sie das Volkstheater in den Bezirken und ist auch weiterhin als Dramaturgin tätig. Theater ist für die Theatermacherin mit Hands-on-Mentalität immer Teamsport.