Oft hat es Vorteile, für Sie schreiben zu dürfen: Man kommt in den Genuss, manche Produktionen bereits im Vorfeld zu sehen. Wir sitzen auf den weichen Stühlen der Volksoper und dürfen einen Probedurchlauf von „Die Reise zum Mond“ von Jacques Offenbach miterleben. Neben den Talenten des Opernstudios werden auch die Jüngsten der Volksoper im Kinder- und Jugendchor (Mindestalter: sieben Jahre) in dieser Produktion zu sehen sein. Etwas, was man gesehen haben sollte, wie wir finden. In der Probenpause werden wir durch die verschiedenen Gänge der Volksoper geführt und treffen hier die Chorleiterin Brigitte Lehr zum Interview. Das Gespräch ist kurz, Lehr hat dennoch viel zu sagen. Man merkt, sie brennt für die Arbeit mit Kindern.

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Von der Bühne vor die Bühne

Kurz zu Lehr: Die Chorleiterin wirkte selbst bereits in jungen Jahren in der Volksoper mit und ist mit der Bühne groß geworden. Lehr war danach für viele Produktionen als Tänzerin und Sängerin tätig. „Als Tänzerin hat man irgendwann ein Ablaufdatum, und so ergab sich die Gelegenheit, dass ich die Kinder hier übernehmen konnte.“ Seit 24 Jahren arbeitet sie schon mit Kindern, 18 Jahre davon leitet sie den Kinder- und Jugendchor. Anfangs noch mit 50 Mitgliedern, ist der Chor bis heute auf 170 Kinder gewachsen. Beim Durchgang durch die Garderoben nach dem ersten Teil schlüpft das eine oder andere Kind auf dem Weg zur Maske oder zum Kleiderständer an uns vorbei. Wir wollen wissen: Wie finden die Jüngsten der Volksoper hierher? Und wie erkennt man jetzt Talent?

Gespür für Talente

Die ersten Sekunden sind entscheidend. „Das geht ganz schnell“, meint Lehr, die pro Jahr 150 von den 200 sich bewerbenden Kindern zum Vorsingen einlädt und zwanzig davon in den Chor aufnimmt. „Das Kind kommt herein, sagt seinen Namen, und man weiß es. Ich weiß dann zwar noch nicht, ob es singen kann oder nicht, aber ich merke allein an der Art, wie es in den Raum kommt, ob es eine Präsenz und eine Persönlichkeit hat. Man soll sich nicht selbst loben, aber ich habe ein gutes Gespür dafür.“ Lehr lacht. Und wenn ein Kind sie überzeugt, aber kein Gesangstalent ist? „Das macht nichts, wir decken bei uns alles ab. Wir haben Kinder, die viel singen oder tanzen, dann gibt es Kinder, die schauspielern.“

Das Arbeitspensum ist dabei kein kleines. Besonders in der Probenzeit, wie jetzt. Derzeit treffen die jungen Talente einander sechsmal die Woche à drei Stunden. „Aber das ist nicht immer so. Wir haben einmal die Woche Unterricht, und dann kommt noch die Probenarbeit dazu. Um den Daumen gepeilt sind die Kinder zehn Stunden die Woche in den Proben“, so Lehr.

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Die Kinder sind dabei doppelt besetzt, falls es zu einem Ausfall kommen sollte. Etwas, was Brigitte Lehr neben ihrer ­Expertise ihren Kindern jedoch nicht mitgeben kann, ist der Wille fürs Performen. „Das kommt von innen“, ist Lehr überzeugt. „Es fasziniert mich, was für ein Potenzial man aus Kindern herausholt, wenn sie Freude und Liebe dafür haben. Ich bemerke natürlich, dass die Kinder viel aufgeben, weil sie für eine Produktion vermehrt Proben haben. Aber sie sind mit Eifer bei der Sache, und sie lernen andere Dinge als in der Schule. So lernen sie für das Leben.“

Das große Danach

Brigitte Lehrs feines Gespür für zukünftige Opernsterne hat bereits einige Früchte getragen. An dieser Stelle unbedingt erwähnt werden sollten Katharina Gorgi (sie spielt derzeit die weibliche Hauptrolle der Isabella in „Rock Me ­Amadeus – Das Falco Musical“) und Jakob Semotan, der nicht mehr von den Solist*innen der Volksoper weg­zudenken ist. Beide haben im Kinderchor bei Brigitte Lehr begonnen. „Es fällt mir auf, dass viele ehemalige Chorkinder, wenn sie nicht selbst auf die Bühne gehen, trotzdem in theaternahen Berufen bleiben“, erzählt Brigitte Lehr. Regieassistenz, Castingdirektion, Leitung der Erwachsenenkomparserie – die Bandbreite der heutigen Berufe ihrer ehemaligen Schützlinge ist beeindruckend.

Nicht verpassen

Wir dürfen wieder zu den weichen Stühlen zurück, der Chor stimmt für den letzten Akt an. Ab dem 19. November 2023 kann man den Kinder - und Jugendchor erneut in „Der Zauberer von Oz“ bewundern. Auch in „Aristocats“ (seit 24. September in der Volksoper) sind die jungen Talente vertreten. Wer also die Zukunft der Opernwelt jetzt schon live erleben möchte, sollte sich keine dieser Gelegenheiten entgehen lassen.