Auf der Kippe stehen: Das beschreibt die Situation von Außenseiter Peter Grimes aus Benjamin Brittens beliebter Oper. Dieses Motiv findet sich auch im Bühnenbild der Inszenierung von Christof Loy im Theater an der Wien wieder. An einer steilen Rampe wurde ein Bett montiert, das in den Orchestergraben zu kippen droht. Die Premiere der Oper in drei Akten mit den expressiven und berühmten Orchesterzwischenspielen, die immer wieder auch konzertant aufgeführt werden, markierte 1945 den Beginn von Brittens Karriere als einer der prägendsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts. Der titelgebende Part ist ein Marathon für jeden Tenor. Einerseits handwerklich, als auch psychologisch, wie der US-amerikanische Tenor Eric Cutler im Interview berichtet, der in Wien sein von der Kritik hochgelobtes Debüt in der Rolle gab.

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Das Bühnenbild von Peter Grimes stellt für die Interpreten eine Herausforderung dar, sorgt aber dafür, dass man von jedem Platz im Theater an der Wien hervorragend sieht.

Foto: Theater an der Wien/Monika Rittershaus

Das Meer als Protagonist

BÜHNE: Peter Grimes gilt als eines der großen musikalischen Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Wie würden Sie jemanden, der sich mit Opern nicht wirklich auskennt beschreiben, warum das so ist?

Eric Cutler: Britten konnte damit eine harmonische und musikalische Sprache entwickeln, die unverwechselbar ist. Es gibt einfach niemanden, der so klingt. Man kann in der Musik hören, dass er lange Jahre an der Nordsee in Aldeburgh an der Ostküste Großbritanniens verbracht hat. Das Meer, der Wind, Stürme, diese Geräusche der Natur waren wohl immer in seinem Hinterkopf und eine ständige Begleitung in seinem Leben. Es ist eigentlich so, dass das Meer selbst ein zusätzlicher Charakter in seiner Oper ist.

Allegorie auf die Unterdrückung von Homosexuellen

BÜHNE: Sie arbeiten bereits zum dritten Mal mit Regisseur Christof Loy zusammen. Diesmal ist das Bühnenbild des Fischerdorfs, in dem Peter Grimes lebt, sehr reduziert. Was war seine Vision für diese Inszenierung?

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Eric Cutler: Ja, wir sind mittlerweile gut befreundet. Christofs Wunsch war, die Geschichte von Peter als Außenseiter zu erzählen und wie er mit seiner Identität als Homosexueller ringt - und auch wie er um seinen Platz in der verschlossenen Dorfgemeinschaft kämpft. Es ist ein Blick auf die Geschichte von Peter, wie wir sie zuvor noch nicht gesehen haben.

Es ist bekannt, dass Britten selbst homosexuell war und die Rolle für seinen langjährigen Lebenspartner Peter Pears geschrieben hat. Durch das gesamte Stück ziehen sich subtile Hinweise auf seine sexuelle Orientierung. Aber ich glaube nicht, dass wir jemals eine Produktion gesehen haben, in der es explizit um ein Coming-Out geht.

BÜHNE: Diese emotionale Gratwanderung zeigt sich auch im Bühnenbild. Es sieht nicht ganz einfach aus, darauf zu spielen.

Eric Cutler: Die Bühne ist wie eine Black Box. Drei Wände sind hoch und schwarz. Der Boden ist eine Rampe, die für uns eine tatsächlich eine Herausforderung darstellt. Gleichzeitig profitieren die Zuseher:innen, da es dadurch keinen schlechten Sitzplatz im Haus gibt. Im Zentrum ist ein Bett. Es wirkt, als ob es gleich in den Orchestergraben fällt. Alles ist unglaublich minimalistisch und verdichtet.

Es macht große Freude, hier zu singen. Denn es ist insgesamt ein unglaublich tolles Ensemble. Das Publikum sollte wirklich diese Möglichkeit nutzen, Peter Grimes am Theater an der Wien zu erleben.

Emotionale Höchstleistung

BÜHNE: Apropos Herausforderung: Diese Rolle ist bekannt dafür, dass sie extrem strapaziös ist. Was macht Peter Grimes zu so schwierig?

Eric Cutler: Ich habe bereits sehr viel schwieriges Material gesungen (Cutler ist ein versierter Wagner-Interpret, Anm.). Ich würde gar nicht sagen, dass es die Länge ist. Für Lohengrin, Tannhäuser oder Tristan braucht man einen viel längeren Atem. Bei Peter Grimes spannt sich der Stimmumfang jedoch über zwei Oktaven.

Aber um ehrlich zu sein ist die Schwierigkeit von Peter Grimes nicht das Singen. Es ist das Gefühl. Diese tiefe Einsamkeit, die man fühlen muss, um in den Charakter einzutauchen. Er ist extrem isoliert. Ich wünschte auf eine Art oder Weise, dass ich ihn am Ende des Tages einfach wegpacken könnte. Aber ich nehme ihn mit nach Hause und lebe mit ihm und seiner gequälten Seele während der sechs Wochen dieser Produktion.

BÜHNE: Und nach so einen Projekt - wie schütteln Sie Rollen wie Peter Grimes wieder ab?

Eric Cutler: Ich plane gerne drei oder vier Wochen zwischen Projekten ein, ich kann nicht von Job zu Job springen. Und ich habe auch zwei kleine Kinder. Danach gehe ich also zurück in mein Familienleben. Und so wuselig und ereignisreich wie das ist, wird es mir hoffentlich nicht schwerfallen, Peter wieder loszulassen.

Alle Termine: Peter Grimes im Theater an der Wien

Eric Cutler steht als Peter Grimes in der gleichnamigen Oper auf der Bühne im Theater an der Wien.

Foto: Dario Acosta

Zur Person: Eric Cutler

Der US-amerikanische Tenor gewann im Jahr 2005 den Richard Tucker Award. Nach Anfängen im Belcanto-Repertoire und lyrischen Rollen in Opern von Bellini, Donizetti, Bizet und Gounod und Auftritten u.a. an der New Yorker Met, der Bayerischen Staatsoper München, dem Royal Opera House, der Pariser Oper sowie in Venedig, Chicago und bei den Festspielen in Salzburg und Glyndebourne, bevorzugt er aktuell Partien des jugendlichen Heldenfachs.

Jüngste Höhepunkte waren u.a. die Titelrollen in Offenbachs Les Contes d’ Hoffmann in Brüssel und in Mozarts Idomeneo in Madrid, Kaiser in Die Frau ohne Schatten und Apollo in Daphne in Hamburg, Erik in Der fliegende Holländer in Houston und Bacchus in Ariadne auf Naxos in Aix-en-Provence.

In diesem Sommer debütierte Cutler als Erik in Richard Wagners Der Fliegende Holländer bei den Bayreuther Festspielen. Wagner wird auch im kommenden Jahr ein Schwerpunkt: Er wird ab Jänner den Lohengrin an der Hamburger Staatsoper und später im Jahr bei den Salzburger Osterfestspielen singen. Im Sommer wird Eric Cutler erneut bei den Bayreuther Festspielen zu erleben sein.