„Der Menschheit und der Welt zu entgehen ist uns nicht bestimmt. Was nützt der Kunst wohl mehr: mit ihnen zu leben oder sie zu meiden?“ Das fragte sich Leoš Janáček und gab mit seiner zwischen 1894 und 1903 komponierten „Jenůfa“ eine Antwort: „Aus den Menschen, aus der Welt und aus mir selbst schöpfe ich die Kraft zu schaffen.“ Die Menschen sind in diesem Fall Dorfbewohner, die Welt ist das ländliche Mähren.

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Janáček selbst strich sich dafür „Její pastorkyňa“ („Ihre Ziehtochter“) von Gabriela Preissová zusammen. Ein tschechisches Dorf- und Bauerndrama, das das Schicksal Jenůfas zeigt, die an der Dorfgemeinschaft zu zerbrechen droht. Vom Cousin Štewa geschwängert, der sie nicht heiraten will, lässt Jenůfa die Liebe von dessen Stiefbruder Laca unerwidert. Nach dem Plan ihrer Stiefmutter, der Küsterin, bringt sie im Geheimen ihren Sohn zur Welt. Doch die Küsterin erträgt die Schmach nicht. Sie ertränkt das Kind, erzählt aber Jenůfa, es wäre gestorben, während sie im Fieber lag. Der Mord wird entdeckt. Jenůfa vergibt der Stiefmutter und verlässt mit Laca das Dorf.

David Butt Philip
Studium in der englischen Heimat. David Butt Philip und die Klavierauszüge einiger „seiner“ aktuellen Opern: „Rusalka“, „Káťa Kabanová“, „Jenůfa“, „Meistersinger“ und „Carmen“.

Foto: Sophie Green

Der Tenor David Butt Philip singt diesen Laca in der Wiederaufnahme der Inszenierung David Pountneys von 2002: „Er ist ein faszinierender, vielschichtiger Charakter, so wie alle Figuren in ‚Jenůfa‘. In den Opern dieser Zeit sind die Charaktere oft sehr eindimensional. Nicht so Laca, der eine außergewöhnliche Reise durchmacht.“ Er singt sich sein ganzes Unglück von der Seele, während Štewa feiert, dass er nicht zum Militär muss. Aus Eifersucht zerschneidet er Jenůfa die Wange. Als die Küsterin gesteht und Jenůfas Schande entdeckt wird, reicht er ihr trotzdem die Hand. „Die Entwicklung, die er durchmacht, ist gewaltig, man muss wirklich alles spielen können, den gequälten, bösen Kerl genauso wie den romantisch Verliebten. Am Ende kommt eine Art Erlösung. Wobei das kein Happy End wie im Märchen ist. Aber es gibt in den letzten drei Minuten diesen Lichtblick, der plötzlich auftaucht. Das ist absolut magisch, hochemotional!“

Notenbücher von David Butt Philip

Foto: Sophie Green

Leichter als Russisch

Für David Butt Philip war Janáček ein wahrer Meister in der Beschreibung der „Autoritäten und der Dorfgemeinschaft, in der ein ungeheurer sozialer und religiöser Druck auf den Menschen lastet, sich an die strengen Spielregeln zu halten“. Sprache, Sprachmelodie, Tonfall spielen eine zentrale Rolle für die Darstellung von Janáčeks Charakteren. Das stellt Nicht-Muttersprachler vor große Herausforderungen: „Für mich ist Tschechisch zumindest leichter als Russisch. Aber als Opernsänger sind wir ohnehin gewohnt, meistens in einer Fremdsprache zu singen.

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Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl: unmöglich, wie soll ich mir das merken? Aber dann findet man einen Schalter, und es macht klick.“ David Butt Philip scheint derzeit aufs tschechische Repertoire abonniert zu sein. Im Sommer sang er mit Riesenerfolg den Boris in der Salzburger „Káťa Kabanová“, „2020 habe ich zum ersten Mal den Prinzen in ‚Rusalka‘ in Madrid gesungen, ‚Jenůfa‘ konzertant in Amsterdam, ‚Káťa‘ in Glyndebourne, nächste Saison kommen erneut ‚Jenůfa‘ und ‚Rusalka‘, später erstmals Albert Gregor in ,Věc Makropulos‘.“

Bücher von David Butt Philip

Foto: Sophie Green

Apropos Sprache und Janáček, ausgerechnet die deutsche Übertragung durch Max Brod sorgte nach der Wiener Erstaufführung 1918 für den Durchbruch des Werks. Die große Mizzi Jeritza war lange Wiens Jenůfa, Sena Jurinac rückte in einer Otto-Schenk-Inszenierung 1964 nach, in der auch Gabriela Beňačková-Čáp neben Leonie Rysaneks legendär dämonischer Küsterin zu erleben war, bis die Stafette 2002 an Jorma Silvasti als Laca, Agnes Baltsa als Küsterin und Angela Denoke als Jenůfa weitergereicht wurde. Jetzt folgt die nächste Generation. So stellt sich Violeta Urmana als Küsterin vor, und die Ausnahme-Singschauspielerin Asmik Grigorian, die ebenfalls im Salzburger Festspielsommer, in Puccinis „Il trittico“, gefeiert wurde, erobert sich mit der Jenůfa ihre nächste große Wiener Partie.

Vom Chor zum Tenor

David Butt Philip hat spät seine Solistenkarriere begonnen. Die musikalische Ausbildung allerdings früh – wobei, für einen singenden Knaben auch wieder spät. Wie das? Die Eltern sind Klassikfans, der Vater ist ein sehr guter Amateurmusiker und Tenor im Kirchenchor. David Butt Philip wuchs in diesem Umfeld in Somerset auf, hätte mit acht bereits im Chor der Wells Cathedral singen können.

Notenbuch von David Butt Philip

Foto: Sophie Green

Wollte aber nicht, damit er seine Schulfreunde nicht verliert. Mit elf fand er doch Gefallen an der Chor-Idee. Zu spät für Wells, worauf ihn die Eltern nach Peterborough brachten. Dort gaben ihm wöchentlich acht musikalische Dienste in der Kathedrale, täglich eine Stunde Probe in der Früh, dazu musikalisches Training nach der Schule das Rüstzeug, um nach einem kurzen Intermezzo mit Philosophie und Politik Gesang zu studieren. Allerdings als Bariton. Dann ging es in den Chor von Glyndebourne. Als er begann, sich als Tenor auszuprobieren, riet ihm Dirigent Vladimir Jurowski als einer der Ersten zum Fachwechsel und später auch zur Solistenkarriere. Danach ging es rasch nach oben.

Ein bisschen Unfall

Jetzt auch nach Wien, wo er im Dezember seinen ersten Stolzing in der „Meistersinger“-Premiere und im April den Don José in „Carmen“ singen wird. Dass es ihn, der bald auch die Strauss-Partien Kaiser („Die Frau ohne Schatten“) und Apollo („Daphne“) singen möchte, ins Heldenfach zieht, verneint er: „Nur weil ich Lohengrin und Stolzing singe, müssen nicht Siegfried und Tristan kommen.“ Er erklärt seine Stimme mit Janáček: „Laca und Boris könnten fast für mich geschrieben worden sein, passen perfekt. Sie erfordern gleichzeitig lyrische und heldische Qualitäten.

Asmik Grigorian
Asmik Grigorian ist Wiens neue Jenůfa „Unerschrockene Seelensucherin“ nannte sie der „Tagesspiegel“ anlässlich ihrer Berliner Auftritte als Jenůfa, mit der sie auch London begeisterte.

Foto: Lukas Gansterer

Man muss elegant und schön singen können, aber auch in der Höhe über das Orchester kommen. Das ist meine Stärke, ich bin halber Heldentenor und halber lyrischer Tenor.“ Der Beruf Sänger war für David Butt Philip genauso eine Überraschung wie für seine Eltern. „Es war ein bisschen ein Unfall“, sagt er, „doch meine Eltern erleben es als unerwarteten Traum, denn als Pensionsprojekt folgen sie mir rund um die Welt, um mich singen zu hören!“ In dieser Saison werden sie wohl öfter in Wien sein.

Zur Person: David Butt Philip

Er studierte an der Royal Academy of Music in London, absolvierte das Jette Parker Young Artist Programme der Oper in Covent Garden und begann mit viel Puccini seine Solokarriere. Kürzlich begeisterte er als Zemlinskys Zwerg in Berlin und als Florestan in London. In Edinburgh sang er den Bacchus in „Ariadne auf Naxos“. Als Grigori in „Boris Godunow“ und Laertes in Brett Deans „Hamlet“ stellte er sich zuletzt an der MET in New York vor.

Zu den Spielterminen von „Jenůfa“ in der Wiener Staatsoper!