Das Dilemma. „Vor Probenbeginn sollte ein Regisseur sich hüten vor allzu großer Redseligkeit“, meint Elmar Goerden im Interview kurz vor Probenbeginn. Fragen nach der Inszenierungskonzeption sind in einer solchen Phase nicht die beliebtesten, weil – und dieses Unwohlsein treibt auch den „Lulu“-Regisseur um – „ich es vermeiden möchte, dass meine Perspektive auf ein paar zitierbare Sätze eingedampft wird“.

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Aus zeitlichen Gründen nicht anders möglich, geht der nicht nur an der Josefstadt gern gesehene Theatermacher dann doch in medias res, was man ihm angesichts eines so komplexen Stoffes wie Frank Wedekinds Tragödie gar nicht hoch genug anrechnen kann. Selbiges gilt auch für Lulu-Darstellerin Johanna Mahaffy, die sich zum Zeitpunkt des Gesprächs zwar schon hinreichend mit dem Text beschäftigt hat, allerdings noch keine Gelegenheit hatte, diesen auch analog auszuprobieren.

Schon im Prolog als „das wahre Tier, das wilde, schöne Tier“ tituliert und dann wechselweise als kindliche Verführerin oder Femme fatale wahrgenommen, ist Lulu nach heutigen Maßstäben auch Opfer von Pädophilie.

Dr. Schön holt sie von der Straße, macht sie zu seiner Geliebten, verheiratet sie mit anderen Männern, kommt nicht von ihr los und wird schließlich – als er sie in flagranti erwischt – von ihr ermordet. Ihr fragiler gesellschaftlicher Aufstieg erfährt einen tiefen Fall, am Ende ist sie eine jener Prostituierten, die in London von Jack The Ripper erstochen werden.

Theater Josefstadt
John Gabriel Borkman. Elmar Goerdens viel beachtetes Regiedebüt 2012 im Theater in der Josefstadt mit Nicole Heesters, Andrea Jonasson und Helmuth Lohner

Foto: Erich Reismann

Männliche Dominanz

Davon, „Lulu“ als einen Akt weiblicher Selbstermächtigung zu begreifen, hält Elmar Goerden jedenfalls nichts. „Das ist eine steile These, der ich vehement widersprechen würde. Die ‚weibliche Selbstermächtigung‘ beschränkt sich bei Wedekind auf das Recht auf sexuelle Aktivität: eine Befreiung der ‚weiblichen Natur‘ nach männlicher Vorstellung derselben, die nicht verwechselt werden sollte mit Engagement für tatsächliche gesellschaftliche Gleichberechtigung von Mann und Frau. Denn Wedekinds Ansichten zu Themen wie Wahlrecht, Studium oder beruflicher Selbstbestimmung von Frauen sind ernüchternd und können im Briefwechsel mit seiner Frau Tilly nachgelesen werden.“

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Er empfiehlt statt feministischer Lesart eine genaue Lektüre des Textes. „Das Frauen- und Männerbild des Stücks ist einerseits ein Spiegelbild seiner Zeit, andererseits ist es in seinen Grundzügen von dargestellter Männlich- und Weiblichkeit noch immer virulent, hat als toxisches Grundmaterial noch immer eine Wirkung in unseren überwiegend männlich codierten Vorstellungswelten von ‚typischen‘ Geschlechtseigenschaften. Selbst in unserer vorgeblich liberalen, aufgeklärten Zeit sind gerade Frauenbilder immer noch eine männliche Domäne.“

Josefstadt
Die Verdammten. 2016 inszenierte Elmar Goerden die Bühnenfassung des Visconti-Films mit großem Josefstadt-Ensemble und erhielt dafür ein Jahr später den NESTROY-Preis für „Beste Regie“.

Foto: Erich Reismann

Elmar Goerdens Anliegen ist es, diesen Umstand im Auge zu behalten und Lulu „weder als bestaunenswerte Antiquität aus überkommener Vorzeit aufzuführen, noch sie gegen ihren Autor zu verteidigen. Sie darf sich allerdings sehr wohl an ihm stoßen.“ Frank Wedekind sei nämlich nicht nur ein Kind seiner Zeit gewesen, sondern auch ein eifriger Agent seiner Projektionen auf Frauen und ihre Körper.

Ungleiche Machtverhältnisse

„Lulu ist für mich eine selbstbewusste junge Frau, die, durch die Traumatisierungen in ihrer Kindheit und Jugend, von einem starken Überlebenssinn und dem Wunsch, geliebt zu werden, getrieben wird“, erklärt Hauptdarstellerin Johanna Mahaffy.

„Es sind skrupellose Entscheidungen, die sie trifft und treffen muss, um sich ihrer eigenen Freiheit nicht berauben zu lassen. Die Titulierung ‚Femme fatale‘ oder ‚wildes, schönes Tier‘ ist ein Bild, welches von Männern, letztlich auch von Wedekind selbst kreiert wurde, die Lulu als Projektionsfläche nutzen. Sie üben ihre Macht aus, indem sie glauben, Lulu besitzen zu können. In meinen Augen aber besitzt Lulu letztendlich nur sich selbst, woran die vermeintlich Liebenden und deren Bild einer Frau schließlich zugrunde gehen.“

Dass eine Zwölfjährige von einem wesentlich älteren Mann zur „Geliebten“ gemacht würde, passiere tragischerweise immer noch. „Es gibt auch gegenwärtige Beziehungen, die von Machtverhältnissen, Abhängigkeiten, krankhaften Vorlieben und einem misogynen Frauenbild geprägt sind.“ Das Stück und seine Figuren seien womöglich deshalb zeitlos faszinierend, „weil sie sich mit Eifersucht, dem Begriff der Liebe, Kriminalität, freiem Willen, Abhängigkeit, Lust und Begierde auseinandersetzen. Lulu ist eine Figur, die ein Geheimnis behält, dessen Undurchsichtigkeit bis zum Schluss reizvoll erscheint“, so Johanna Mahaffy.

Theater in der Josefstadt 2023/24

Theater in der Josefstadt 2023/24: Der Spielplan

Elf Premieren – darunter drei Uraufführungen und eine österreichische Erstaufführung – stehen im Haupthaus und in den Kammerspielen auf dem Programm. Direktor Herbert Föttinger holte bei der Spielplanpräsentation für die kommende Saison politisch weit aus und kam zum Schluss: „Wir müssen es miteinander aushalten.“ Weiterlesen...

Zensur und Inspiration

Frank Wedekind schrieb insgesamt 21 Jahre an „Lulu“, das eine Art Verschmelzung seiner Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ ist. Er musste das Stück immer wieder neu überarbeiten, um der wilhelminischen Zensur zu entkommen und ihm überhaupt zu Aufführungsmöglichkeiten zu verhelfen. Der Vorwurf der Unzüchtigkeit war Wedekinds ständiger Begleiter und zog auch im Falle „Lulu“ langwierige Gerichtsprozesse nach sich.

Zugleich faszinierte und inspirierte der Stoff auch Künstler anderer Genres zu eigenen Arbeiten. Am berühmtesten ist wohl die Oper „Lulu“ von Alban Berg, zudem gab es aber auch Ballette, Filme und Romane. Zu den interessantesten Interpretationen zählt sicherlich das Konzeptalbum „Lulu“, das Lou Reed 2011 gemeinsam mit der US-Rockband Metallica auf den Markt brachte. Darauf zu hören sind jene Songs, die Reed für Robert Wilsons „Lulu“-Inszenierung am Berliner Ensemble geschrieben hat.

Johanna Mahaffy Herbert Föttinger
Der Wald. Herbert Föttinger lers Inszenierung der Ostrowski-Komödie Gennadij Nestschastliwzew, Johanna Mahaffy ist als Axjuscha eine hinreißende arme Verwandte.

Foto: Moritz Schell

Kollegiale Premiere

Johanna Mahaffy hat zwar bereits zwei Inszenierungen von Elmar Goerden gesehen, die ihr nach eigenem Bekunden „große Lust auf eine Zusammenarbeit gemacht haben“, tatsächlich ist es aber das erste Mal, dass sie in einer seiner Inszenierungen spielt. Das ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass die Schauspielerin 24 Jahre jung ist und dem Ensemble der Josefstadt erst seit 2021 angehört. Denn Elmar Goerden hat bereits eine lange und erfolgreiche Josefstadt-Regiehistorie vorzuweisen.

2012 inszenierte er „John Gabriel Borkman“ mit Helmuth Lohner in der Titelrolle. Es folgten viel beachtete Arbeiten wie „Die Verdammten“, für die er mit dem NESTROY ausgezeichnet wurde, die Romanadaption „Marias Testament“ mit Nicole Heesters, bei der Goerden auch das Bühnenbild verantwortete, seine Dramatisierung des Joseph-Roth-Jahrhundertromans „Radetzkymarsch“, Henrik Ibsens „Rosmersholm“ sowie „Medea“ mit Sandra Cervik, die neben Joseph Lorenz auch in „Die Ziege oder Wer ist Sylvia?“ eine Hauptrolle übernahm.

„Die Josefstadt ist mir mittlerweile eine Art Wahlheimat, ein künstlerisches Zuhause geworden. Das liegt zum einen an Herbert Föttinger, der mir seit über zehn Jahren mit großem Vertrauen und beständiger Offenheit begegnet, die ich einmalig finde. Zum anderen an einem Ensemble, das in der deutschsprachigen Theaterlandschaft seinesgleichen sucht. Ich finde es künstlerisch und menschlich ‚outstanding‘. Nicht nur in Wien. Ich arbeite nirgendwo lieber, und das umfasst auch die Menschen hinter, neben und über der Bühne.“

Johanna Mahaffy
Der König stirbt. Regisseur Claus Peymanns Umsetzung des Ionesco-Klassikers mit Bernhard Schir

Foto: Philine Hofmann

Johanna Mahaffy möchte abschließend noch etwas klarstellen. In einem früheren BÜHNE-Interview meinte sie, Theater müsse unbedingt gesellschaftspolitisch sein. Diese Aussage findet sie heute „unverschämt“. „Ich habe ja kein Recht, zu sagen, wie Theater sein muss. Ich kann nur für mich entscheiden und herausfinden, wie und woran ich gerne arbeite. Und die Auseinandersetzung mit einem gesellschaftskritischen Blick und einer Haltung hat für mich einen erfüllenden Sinn.“

Zur Person: Johanna Mahaffy

Studierte Schauspiel am Max Reinhardt Seminar. Davor sammelte sie im Jungen Ensemble Hörbiger und bei Produktionen der Jungen Burg schon erste Schau­spiel­erfahrungen. Seit dieser ­Saison gehört sie zum Josefstadt-Ensemble.

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