Statt es in gemütlichen Sitzreihen Platz nehmen zu lassen, möchte Claudia Bosse ihr Publikum in ihrer aktuellen Arbeit „Oracle and Sacrifice in the woods“ lieber versetzen. Schon der Titel verrät, dass der Wald, genauer gesagt die Waldlandschaft des Wiener Praters, Ort dieser Versetzung ist. Darüber hinaus soll das Stück auch eine Möglichkeit sein, sich der Natur mit allen Sinnen auszusetzen. Und in dieser Begegnung sich selbst zu begegnen – wenn auch vielleicht auf etwas andere Weise als gewohnt. Kurz zusammengefasst: eine Setzung, die ohne Sitzreihen, dafür mit sehr viel durchwanderter Natur auskommt.

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Sehen, hören, berühren

Ausgehend vom Leberorakel und der Überlegung, was es bedeuten könnte, wenn in den Organen eines Körpers die Zukunft lesbar wird, entwickelte die Choreografin und Regisseurin ein Stück, das den Zusammenhang zwischen Körper und Umgebung erforscht. „Mir war sehr schnell klar, dass ich diese Arbeit mit einer Wald-Landschaft konfrontieren möchte“, erklärt Claudia Bosse, die wir witterungsbedingt nicht wie geplant im Wiener Prater, sondern in den Proberäumlichkeiten des brut treffen. Sich der Unkontrollierbarkeit der Natur zu stellen, ist für die Gründerin und Leiterin der Theater- und Performancegruppe theatercombinat, Ansporn und Herausforderung zugleich.

Aber vor allem ersteres – das steht bereits nach wenigen Minuten unseres Gesprächs fest. „Der Raum verändert sich je nach Licht- und Wetterverhältnissen und ist dadurch nicht wirklich kontrollierbar. Wenn man in solche Räume geht, ist mir wichtig, dass sämtliche Übergänge offen sind und man sich überraschen lassen kann. Es werden plötzlich Dinge Teil der Performance, mit denen man zuvor nicht rechnen konnte“, erklärt Claudia Bosse.

Foto: Markus Gradwohl

„Wenn es dadurch dazu kommt, dass alltägliche Absurditäten anders hinterfragt werden, umso besser“, fügt sie lachend hinzu. Vier Tänzer*innen und ein Chor von 20 Frauen im Alter zwischen 18 und 77 Jahren werden die Zuschauer*innen dazu einladen, unterschiedliche Situationen wahrzunehmen und zu imaginieren. „Am Anfang geht es vor allem darum, von einem Hörstück  geleitet oder vielleicht sogar verführt zu werden – den eigenen Körper diesen Landschaften auszusetzen, verschiedene Dinge zu sehen, zu hören und auch zu berühren“, fasst Claudia Bosse zusammen. Der Chor in „Oracle and Sacrifice in the woods“ ist weniger ein sprechendes Gefüge als vielmehr ein „Verbund von Körpern, die zusammen etwas verhandeln und auf diese Weise  Situationen offerieren“.

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Mit allen Sinnen Sinn erzeugen

Nach ihrem Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin entwickelte Claudia Bosse ein immer stärkeres Interesse für ortsspezifische Arbeiten. Die Räume, in die sie sich dabei begibt, bezeichnet die in Niedersachsen geborene Künstlerin als „Co-Autoren“ ihrer Arbeiten. „Ich glaube an die Möglichkeit frei flottierender Körper, die selbst Entscheidungen treffen. Der Zustand der ‚freien Versammlung‘ hat bei mir daher immer sowohl eine poetische als auch eine politische Dimension“, so Bosse. Bei „Oracle and Sacrifice in the woods“ gab es jedoch noch einen weiteren Ausgangspunkt, nämlich die Performance „Oracle and Sacrifice I oder die evakuierung der gegenwart“, die 2020 im TQW und danach auch außerhalb Österreichs gezeigt wurde.

Das erste Solo der Regisseurin, Choreografin und Performerin beeinflusste ihre nachfolgenden Arbeiten nachhaltig. „Das Solo entstand aus dem Wunsch, Dinge nicht über Worte zu vermitteln, sondern mich direkt mit ihnen auseinanderzusetzen. Außerdem habe ich beobachtet, dass ich mich bei der Beschäftigung mit der Gegenwart gerne in kritische Positionen begeben habe, es mir jedoch immer wichtiger wurde, mit allen Sinnen Sinn zu erzeugen – Vorschläge zu machen, nicht nur zu kritisieren“, erklärt Claudia Bosse.

Zur Person: Claudia Bosse

Claudia Bosse lebt in Wien und Berlin, ist Regisseurin, Choreografin, Künstlerin und leitet theatercombinat. Ihre Arbeiten verhandeln Formen von Gewalt, Geschichte und konkrete Utopien. Meist sind ihre Stücke und Performances an bestimmte Orte gebunden.

Von „Oracle and Sacrifice in the woods“ wünscht sie sich, dass die Menschen im Publikum von der Umgebung, dem Licht, den Geräuschen und den Handlungen, die passieren, berührt sind „Dass sie vielleicht eine andere Wirklichkeit erfahren, in der Dinge wahrscheinlich werden, die in unserem Alltag alles andere als wahrscheinlich sind“, fügt sie hinzu. Nach einer kurzen Pause ergänzt sie, dass es dabei aber nicht darum gehen soll, Räume zu überschreiben, sondern in den Räumen, die möglicherweise sogar bekannt sind, ein anderes Denken und eine neue Form der Imagination zu ermöglichen.

„Und damit auch eine andere Körperlichkeit“, fügt Claudia Bosse abschließend hinzu. Entlang des SatzesThere is no such ‘thing’ as the environment, since being involved in it already, we are not separate from it” des US-amerikanischen Publizisten und Philosophen Timothy Morton ist es ihr wichtig, sichtbar zu machen, dass „wir Menschen auf diesem langen Zeitstrom eigentlich nur ein Krümel sind. Sich darüber klar zu werden, dass Veränderung und Verfall auch Nährstoffe für etwas Werdendes und Kommendes sein können, halte ich für essentiell“.

Orakel- und Opfermythen

Die Beschäftigung mit Orakel- und Opfermythen zieht sich durch viele ihrer Arbeiten, wobei ihre Inszenierung von „Thyestes“ im Jahr 2019 ihr Interesse noch zusätzlich vertiefte. „Das Orakel schenkt einer Sache Aufmerksamkeit, die nicht eindeutig ist. Es braucht Wissen und Zeit, um es zu entziffern. Das bedeutet aber auch, dass wir, wenn wir unsere Umgebung genau betrachten, immer wissen, was kommt. Dieses genaue Hinschauen verlernen wir jedoch immer mehr“, sagt Claudia Bosse. Sie ergänzt: „Ich finde das Orakel deshalb so spannend, weil es versucht, ein anderes Wissen, das auch ein poetisches Wissen sein kann, aufzurufen. Es lässt sich vielleicht unterschiedlich interpretieren, aber es denkt in einer Kosmologie von Zusammenhängen.“

Foto: Markus Gradwohl

Für „Oracle und Sacrifice in the woods“ bedeutet das: Vielleicht lässt sich ja im Atmen des Waldes vernehmen, was die Zukunft bringen mag. Und darüber hinaus? „Wenn wir ein Umdenken versuchen möchten, sollten wir einerseits Zusammenhänge, darüber hinaus aber auch die Fragilität der Deutung begreifen“, so Bosse. Aber auch der Opfervorgang – als Ausgangspunkt des Theaters überhaupt – fasziniert die Künstlerin und Theatermacherin. Schließlich ist das Beschwören eines „Übergangs von einem Gegenstand oder einem Lebewesen zu etwas anderem“ eine tragende Säule jedes künstlerischen Vorgangs.

Ein Vierteljahrhundert theatercombinat

Das Jahr 2022 ist für Claudia Bosse auch ein Jubiläumsjahr. Vor 25 Jahren gründete sie theatercombinat in Berlin, bald darauf übersiedelte sie nach Wien. „Ich habe das Gefühl, dass wir gerade erst unser 20-jähriges Jubiläum gefeiert haben“, sagt sie lachend. Dem 25. Geburtstag blickt sie mit einer Mischung aus Stolz und einem „Akzeptieren, dass man nun schon relativ viel Erfahrung gesammelt hat“ entgegen. Wobei das, fügt sie rasch hinzu, nicht bedeutet, dass man nicht immer wieder etwas Neues lernt. Begleitet wird das Jubiläum von einer Publikation – einem der Reihe „Postdramatisches Theater in Portraits“ zugehörigem Band über Claudia Bosse und das theatercombinat. Mit dem passenden Titel „Claudia Bosse. Kein Theater. Alles möglich.“

„Es hat gutgetan, diese lange Zeit für diesen Band aufzuarbeiten, denn ich neige dazu, manche Dinge zu vergessen. Auch welche Einsätze man schon erlebt hat. Dass man beispielsweise zwei Jahre an einem Ort gearbeitet hat, um dann eine Performance von 36 Stunden zu machen“, erinnert sich die Künstlerin. Somit bleibt an dieser Stelle eigentlich nur noch zu sagen: Kein Theater. Alles möglich. 

„Oracle and Sacrifice in the woods“ entsteht in Koproduktion mit brut Wien.

Zu den Spielterminen von „Oracle and Sacrifice in the woods“!