Ende August kommt mit „Packerl“ Ihr Debütroman auf den Markt, der mit großen Vorschusslorbeeren bedacht wurde. Wie fühlen Sie sich?

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Im Moment etwas überfordert, weil es viele Dinge auf einmal sind, die ich fühle. Auf die Erleichterung, die mir alle versprochen haben, warte ich auf jeden Fall noch.

Es bedarf sicherlich vieler Überlegungen, für welche Thematik man sich entscheidet: Warum ist es bei Ihnen eine Familiengeschichte aus stark weiblicher Perspektive geworden?

Ich fand es interessant zu zeigen, wie es sein kann, dass sich die Geschichten der drei Frauen wiederholen, sich ihre Schicksale, wie frühe Schwangerschaften und unglückliche, zum Teil gewaltvolle Beziehungen, fast spiegeln. Und ich habe mich gefragt, woran das liegen kann, ob individuelles Glück überhaupt möglich war oder möglich ist in einer Welt, in der Frauenkörpern immer noch eine andere Rolle zugeteilt wird.

Weshalb haben diese Frauen so viele Probleme miteinander? Die Mütter mit den Töchtern, die Schwestern Elli und Ursel untereinander? Warum bleibt so vieles ungesagt?

Ich denke, sie haben deshalb so viele Probleme, weil eben so viel ungesagt bleibt. Sie sprechen nicht über das, was geschieht, und so passiert für jede von ihnen alles wie zum ersten Mal. Dabei sind es vielleicht gar nicht persönliche Schicksale, sondern gesellschaftliche Umstände, die die Lebenswege dieser Frauen mitzeichnen. Es gibt von Helga Reidemeister eine Dokumentation, die heißt „Von wegen Schicksal“, wo es um eine gewalttätige Ehe geht. Im Laufe des Films trifft die Frau auf ihren Ex-Mann, der immer ganz nebulös davon spricht, dass es halt Schicksal war, wie alles gekommen ist. Aber sie antwortet ihm dann „von wegen Schicksal“, durch die Umstände, die Zeit, die harte Arbeit, durch ihre eigene Erziehung, ist es so gekommen. Ein Schicksal haben, das muss man sich erst mal leisten können, glaub ich. Vielleicht ist es sowieso das, was ich immer versuche, über das Kleine zu schreiben und das Große meinen.

Ist Verdrängung und Verschweigen Ihrer Meinung nach vererblich?

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Ich denke, dass Glaubensätze und Ideologien weitergegeben werden, die uns dazu bringen, zu schweigen und zu verdrängen. Mich hat gerade deshalb auch die Figur der Großmutter, des BDM-Mädchens Elli, so interessiert, die ihr ganzes Leben lang nie ihre politische Überzeugung aufgibt. Die Methoden des Erziehungsbuches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Nationalsozialistin Johanna Haarer haben diese Generation wahrscheinlich genauso geprägt wie die nächste und übernächste. Alexandra stellt sich zwar schon früh gegen ihre Mutter, aber sie gibt ja trotzdem einen Teil dessen, was sie in ihrer Erziehung erlebt hat, weiter. Johanna Haarers Buch wurde übrigens bis spät in die 1980er, leicht überarbeitet, weiterverlegt.

Als Autorin müssen Sie über einen langen Zeitraum mit den von Ihnen kreierten Charakteren auskommen. Haben Sie eine liebevolle Beziehung zu Ihren Protagonist*innen?

Liebevoll würde ich nicht sagen. Eher in dem Sinne: „Ich habe mich für euch entschieden“. Das muss reichen. Entscheidungen treffen ist ja sowieso das Schwierigste am Schreiben.

Ihre Romanfigur Eva, die Letzte in der Frauenkette ihrer Familie, ist beinahe gleich alt wie Sie. Ist das Zufall oder wollten Sie bewusst eine Ihrer Lebensrealität nahe Figur kreieren?

Das ist eher unbewusst passiert, wichtig war mir vielmehr, wo der Roman spielt. Und für mich konnte diese Geschichte nur in Salzburg spielen, wo ich aufgewachsen bin. In dieser Stadt zu leben war für mich wie in einem ständigen Widerspruch zu leben und gleichzeitig in einem nicht enden wollenden Klischee. Vielleicht bin ich deshalb auch so interessiert an Klischees, weil ich weiß, wie wahr sie sein können.

Teile Ihres Romans spielen zu Zeiten, in denen Sie noch gar nicht gelebt haben. Wie viel Energie haben Sie in die Recherche gesteckt?

Sehr viel Energie. Recherchieren ist ja so eine unsichtbare Arbeit, man arbeitet und arbeitet, und am Ende vom Tag hat man nicht eine Zeile geschrieben. Und dann kommt man in der Überarbeitung darauf, dass nicht alles drin bleiben kann, weil es sonst einfach zu kleinteilig wird. Andererseits weiß man aber auch, wenn man jetzt etwas davon streicht, dann verkürzt man. Ich habe auf jeden Fall viel geflucht.

„Packerl“ ist Anna Neatas Debütroman und beschreibt die Lebensgeschichten von drei Frauengenerationen einer Salzburger Familie.

Ullstein Verlag

Schreiben ist meist mit großen Anstrengungen verbunden. Wie lange haben Sie insgesamt an „Packerl“ gearbeitet?

Ich habe acht Jahre daran gearbeitet, immer wieder unterbrochen von anderen Projekten. Am anstrengendsten war es für mich, es so lange mit der Erzählstimme auszuhalten, die zwar ganz nah an den Figuren ist, aber trotzdem ein Eigenleben hat. Sie sollte dieses Raunende haben, auf eine scheinbar harmlose, beiläufige Art, das nebensächlich Grausame erzählen.

„Oxytocin Baby“ war Ihr Durchbruch als Dramatikerin – ein Stück, das sich um Geburt, Schwangerschaft, Abtreibung und weibliche Selbstbestimmung dreht. All das spielt auch in „Packerl“ eine große Rolle. Warum?

Als ich angefangen habe, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, haben mir viele gesagt: „Über diese Dinge ist doch schon alles erzählt worden.“ Mein Eindruck war aber ein anderer. Das kann einen ja auch zum Schreiben bringen, wenn das Außen nicht mit dem Innen zusammenpasst. Ich könnte jetzt auch weiter ausholen, nach USA, Polen schauen, aber ich finde es immer schwierig, wenn man als Autorin plötzlich Expertin wird, nur weil man sich über längere Zeit mit einem Thema beschäftigt. Die Recherche im MUVS (Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Anm.) in Wien war aber auf jeden Fall ein Anstoß. Dort kann man u.a in anonymen Akten nachlesen, wie Ärzte davon berichten, dass gerade die Politiker, die damals am Sonntag gegen die Fristenlösung auf die Straße gegangen sind, am Montagmorgen dann in ihrer Praxis standen, um für die minderjährige Tochter eine Abtreibung zu verlangen. Moral interessiert mich nicht, wenn sie nur als Zuckerguss daherkommt.

Rieke Süßkow hat für die Inszenierung von „Oxytocin Baby“ einen NESTROY bekommen. Hat sich durch diese mediale Aufmerksamkeit auch Ihr Leben verändert?

Würde ich nicht sagen, nein.

Worin unterscheidet sich die Herangehensweise im Schreiben bei einem Roman und einem Theaterstück?

Eigentlich möchte ich immer Prosa schreiben. Dann passiert es aber, dass während des Schreibens plötzlich ein Gefühl entsteht, meistens ausgelöst durch einen bestimmten Rhythmus. Ich merke dann, dass dieser Text laut gesprochen werden und laut gehört werden muss, dass ein oder mehrere Körper dazukommen müssen, damit er wirklich komplett werden kann.

Wie geht es Ihnen mit Beurteilung? Als Autor*in wird man ständig – und noch dazu öffentlich – bewertet …

Ich bin noch nicht sicher, wie ich dem begegnen werde: Wahrscheinlich wie bei allen Dingen mit einer Mischung aus „eigentlich möchte ich von allen geliebt werden“ und kompletter Wurschtigkeit.

Rieke Süßkow

Zwei mal zwei macht fünf

Rieke Süßkow inszeniert Peter Handkes „Zwiegespräch“ mit fünf Spieler*innen und als Dialog zwischen den Generationen. Die Arbeit daran war für die Regisseurin auch ein Zwiegespräch mit dem Autor. Weiterlesen...

Die meisten Autor*innen kommen über das Lesen zum Schreiben. War das auch bei Ihnen so?

Als ich neun Jahre war, bin ich mit dem ersten Tag der Sommerferien krank geworden. Pfeiffersches Drüsenfieber, und da meine Mutter nichts von zu viel fernsehen hielt, habe ich sechs Wochen lang nur gelesen. Ich glaube schon, dass ich ohne diesen Sommer nicht angefangen hätte zu schreiben. Vielleicht gefällt mir aber auch nur der Gedanke, dass so ein verlorener Sommer doch nicht ganz verloren war. Jetzt, wo ich selbst viel schreibe, lese ich allerdings kaum noch. Ich schau vor allem Filme und spiele alte Computerspiele.

Es gibt Schriftsteller*innen, die schreiben pro Tag exakt eine Seite, andere arbeiten 12 Stunden täglich durch, wenn eine Abgabe ansteht. Wie schaut Ihre Schreibroutine aus?

Ich sabotiere mich gerne selbst und arbeite konsequent an einem anderen Text als an dem, der abgegeben werden soll. Bis es nicht mehr anders geht. Für den ersten Entwurf stehe ich meistens sehr früh auf, beginne so gegen 5, 6 Uhr. Der Morgen ist für mich die einzige Zeit am Tag, wo alles noch so verschwommen sein darf, so unsicher. Alles ist noch so offen, auch ich selbst.

John Irving beginnt seine Romane stets mit dem letzten Satz. War Ihnen schon anfänglich klar, wie „Packerl“ ausgehen wird?

Leider nein. Mir würde es ehrlich gesagt schon reichen, wenn ich stets mit dem ersten Satz beginnen würde, das wäre schon ein Fortschritt.

Wann weiß man als Autor*in eigentlich, dass eine Geschichte zu Ende ist?

Ich glaube, man weiß es in Wahrheit gar nicht, aber man weiß, irgendwann muss man aufhören.

Sie haben Sprachkunst an der Angewandten studiert. Was lernt man dabei, was einem das eigene Talent nicht vermittelt?

Es kommen Menschen zusammen, die schreiben, und alle ganz unterschiedlich. Am meisten habe ich von anderen Studierenden gelernt, die ganz anders arbeiten als ich. Und ich habe gelernt, nicht aufzuhören. Als ich mal wieder die tausendste Absage für irgendwas bekommen habe und deshalb alles hinschmeißen wollte, hat mir ein Freund, der damals mit mir Sprachkunst studiert hat, einfach nur eine kurze Nachricht geschickt, nichts Pathetisches oder so, einfach „Hei Anna, hör jetzt nicht auf“. Ich mein’, das kann man sich einfach manchmal nicht selbst geben, das ist schon sehr viel wert.

Ein neuer Roman, ein neues Stück oder etwas ganz anderes: Woran arbeiten Sie aktuell? 

Momentan schreibe ich an einem Stück über Nicolae und Elena Ceaușescu, das die Form eines Walkthroughs hat, also einer Anleitung, wie man durch Computerspiele kommt. Und im Jänner 2024 gibt es die Uraufführung meines zweiten Stücks „Über die Notwendigkeit, dass ein See verschwindet“ am Landestheater Linz.

Zur Person: Anna Neata

Geboren 1987 in Oberndorf bei Salzburg. Studium der Film- und Theaterwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2020 Bachelor-Abschluss Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Im selben Jahr Master-Studium der Sprachkunst u.a. bei Thomas Köck, Olga Grjasnowa, Anna Kim und Ferdinand Schmalz. Schreibt Prosa und Theatertexte. 2020 Gewinnerin des Hans Gratzer Stipendiums/Schauspielhaus Wien mit dem Stück „Oxytocin Baby“. Eingeladen zum Prager Theaterfestival für deutsche Sprache und zum Heidelberger Stückemarkt. Dramatiker*innenstipendium des BKA 2022 für den Stückentwurf „Walkthrough 89“.