Es tut irgendwie schon weh. Das eine ist es, in Jugenderinnerungen zu schwelgen, das andere, die Zeitspanne dorthin in echte Zahlen zu gießen.

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Sagt Stefan Jürgens zu uns: „Mein erstes Stück am Theater, das ich je gesehen habe, war ein Peymann-Stück. Da war ich so 16, 17. Dann später war ich an der Schauspielschule in Bochum, als Peymann am dortigen Theater Direktor war. Ich habe damals als Schauspielschüler in seinem Theater gespielt.“ Also vor vierzig und mehr Jahren, sagen wir.

Pause. Ein erstaunter Blick, und Jürgens nickt und lacht: „Stimmt. Klingt brutal, wenn Sie es so sagen.“

Claus „der Peymann“ Peymann ist mittlerweile 86. Stefan Jürgens ist 60. Geht sich alles locker aus. Ein bisserl mehr als dreißig Jahre ist es auch her, dass Jürgens Kollegenfreundin Maria Happel direkt zu Peymann nach Wien ging und er Anfang der 90er als Comedian zur TV-Show „RTL-Samstag Nacht“. Vor einem Jahr engagierte Happel ihn für „Des Teufels General“ in Reichenau, für den er auch wenige Wochen später den Nestroy bekam. „Peymann hat mich damals gesehen und wir haben geplaudert, und einige Monate später hat er angerufen und gefragt, ob ich den Pozzo in ‚Warten auf Godot‘ machen will. Ich meine, wenn man von Claus Peymann so ein Angebot bekommt …“

Pozzo ist der Besitzer jenes Grundstücks, auf dem Wladimir und Estragon auf Godot warten. Im ersten Akt führt Pozzo seinen Sklaven Lucky an der langen Leine. Er ist mächtig, unsympathisch, brutal zu Lucky. Einen Akt später ist Pozzo erblindet, die Leine kürzer und er nutzt Lucky als Blindenhund. Er stolpert, fällt, ist erbärmlich. Für Pozzo ist die menschliche Existenz kurz und sinnlos. Der Totengräber ist die Hebamme der Menschheit: „Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht.“

Se lo senti lo sai

Stefan Jürgens hat 2021 mitten in Corona nach 215 Folgen seinen Ausstieg aus dem TV-Dauererfolg „Soko Donau“ bekannt gegeben: „Aus einem derart sicheren Engagement auszusteigen und sich auf den freien Markt zu werfen scheint verrückt, ist es aber nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine solche Entscheidung getroffen habe. Es war bei ‚RTL Samstag Nacht‘ so und auch beim ‚Tatort‘. Bequemer wäre es sicher immer gewesen zu bleiben, aber ich habe ein gutes Bauchgefühl dafür, wann es reicht. Wenn ich es spüre, dann weiß ich es.“„

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Se lo senti lo sai“, sagen die Italiener dazu, und Cantatore Lorenzo Jovanotti hat vor einigen Monaten einen gleichnamigen Titel geschrieben. Jovanotti und Jürgens sind fast gleich alt. Vielleicht ist ja die Erkenntnis aus dem Satz eine Frage des Alters und der damit einhergehenden Erfahrung.

Eines der Dinge, die Pozzo zu Lucky sagt, ist: „Denke, Schwein.“ Jürgens nickt. „All die Unmenschlichkeiten, die aberwitzigen Grausamkeiten, die wir tagtäglich über die Flimmerkiste mitbekommen, zu denen wir Menschen fähig sind, liegen in diesem kleinen Satz. Pozzo sagt ihn ja nicht, weil er Lucky damit beleidigen will, sondern weil es selbstverständlich ist, dass er ihn so behandelt.“

Bis die Situation sich dreht. Jürgens: „Es ist eine metaphorische Konstellation. Lucky steht für den unterdrückten Menschen an sich. Beide hängen an zwei Enden eines Seils. Jeder ist vom andern abhängig. Ein Befehlshaber ohne Befehlsempfänger ist nichts. Es ist ein permanentes Weg- und Aufeinanderstoßen. Es gibt keinen solitären Status quo.“

Der Clown in uns und im Stück

Autor Samuel Beckett hat in seinem Stück die clowneske Situations- und Textkomik auf die Spitze getrieben. Das Spielen erfordert höchste Präzision im Agieren zwischen den Schauspielern. Wie schwierig ist es, diesen Text zu lernen und zu beherrschen?

Vielleicht sind wir Menschen nur ein Montagsprodukt und nicht die Krone der Schöpfung.

Stefan Jürgens: „An vielen Stellen ist er wie ein Hütchenspiel aufgebaut, und die Dialoge folgen einem sehr komplexen Rhythmus. Wenn einer von uns zu früh oder zu schnell ist, dann fällt das ganze Gebilde auseinander. Einer der Schlüsselwege, an diese Dialoge als Schauspieler heranzukommen, ist das Prinzip der Naivität, wie es Clowns leben. Sie agieren aus dem Moment heraus, lassen Gedanken sich entwickeln und spinnen diese weiter, und das führt ins Absurde.“

Wie sinnlos kommt einem eigentlich die eigene Existenz vor, wenn man täglich den „Godot“-Text liest – kommt man da nicht zur Erkenntnis, dass das Leben nur eine sinnentleerte Beschäftigung bis zum Tod ist?

„Darauf könnte man kommen. Man könnte aber auch umgekehrt die Frage stellen, wie man eigentlich auf die Idee kommt, dass es mehr sein würde?“ Stefan Jürgens lächelt. „Wir tragen alle das Konstrukt in uns, dass wir denken und reflektieren können, und das kann sehr angenehm, reizvoll und erotisch sein. Weil wir Menschen in uns ein größenwahnsinniges Fehlgebilde sind, führt dies zur Annahme, dass da noch mehr sein muss. Vielleicht ist das der größte Denkfehler. Vielleicht sollten wir unsere Zeit einfach dazu nutzen, glücklich zu sein und mit unserem Nebenan gut auszukommen. Vielleicht sind wir Menschen nur ein Montagsprodukt und nicht die Krone der Schöpfung, für die wir uns halten.“ Was kann man darauf noch sagen? Außer: Danke für das Gespräch, Herr Jürgens.