Da sitze ich also und zähle Reiskörner. Ungekochten Reis. Warum? Weil es auf einer Karte steht, und die ist wiederum Bestandteil einer Box aus Karton, in der wiederum ein kleines Büchlein und dreißig Spielkarten schön geordnet stecken. Auf der Vorderseite der Karten ist jeweils ein Foto von Marina Abramović, auf der Rückseite eine Konzentrationsübung. Eine davon ist eben das Reiszählen.

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Die Marina-Abramović-Methode ist nicht neu. Lady Gaga ist ebenso Fan wie Hillary Clinton, Jay-Z und hunderttausende andere Menschen rund um den Globus. Neu ist die Kartonbox. Die Autorin Katya Tylevich hat sie gemeinsam mit der derzeit wichtigsten und erfolgreichsten Performancekünstlerin der Welt gestaltet.

75 Tage lang saß Marina Abramović im New Yorker Museum of Modern Art auf einem Stuhl. Nach der spektakulärsten Museumsperformance der Kunstgeschichte stellte sich die Welt zwei Fragen: Wie viel Qual erträgt ein Mensch? Und was soll das alles?

Zur Person: Marina Abramović

Marina Abramović stammt aus Serbien und lebt heute, 75 Jahre alt, in New York. Sie wurde vielfach für ihre Arbeiten ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Löwen in Venedig, war mehrfach zur Documenta eingeladen, hatte auch verschiedene Professuren in Deutschland inne. Legendär sind u. a. ihre Arbeiten gemeinsam mit Ulay (1976–1988) und ihre Dauerperfor­mance 2010 „The Artist Is Present“ im Museum of Modern Art in New York.

Der Sessel und ich

Ich bin dem Abramović-Stuhl kurz vor der Pandemie in einer Ausstellung über das Lebenswerk der Künstlerin in Florenz begegnet. Und man kann es nicht anders beschreiben: Ich war beeindruckt. Von einem Sessel!

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Die Performance war ein Ausloten der Grenzen. Aber lassen wir es Marina Abramović selbst erklären: „Das war das Schwierigste, was ich je gemacht habe, ich habe mich ein Jahr lang darauf vorbereitet. Die Leute verstehen ja nicht, was das bedeutet, sich drei Monate lang nicht zu rühren. Das ist die Hölle. Ich musste vorher meinen gesamten Stoffwechsel umstellen. Also: Nur noch abends Wasser trinken, um tagsüber nicht aufs Klo zu müssen, kein Mittagessen, nur ein sehr frühes Frühstück, und beim vegetarischen Abendessen ging es ausschließlich um Nährstoffe. An all das musste ich meinen Körper gewöhnen. Und ich war 62, das war echt hart.“

Reis zählen für eine bessere Welt
„The Artist Is Present“, 2010. Die wohl spektakulärste Performance der Künstlerin: 75 Tage lang saß Abramović 2010 auf einem Sessel im Museum of Modern Art in New York. Hier auf dem Bild sitzt sie ihrem Ex-Partner Ulay gegenüber. Sie selber sagt: „Ich habe mich ein Jahr darauf vorbereitet. Es ist die Hölle, sich drei Monate lang nicht zu rühren. Ich musste vorher meinen ganzen Stoffwechsel umstellen. Ich war damals 62. Es war echt hart.“

Foto: DDP

Die gebürtige Serbin und Weltenbürgerin hat um ihre Abramović-Methode ein florierendes Imperium aufgebaut. Man kann ihre Workshops direkt in der Abramović-Zentrale in New York buchen oder gemeinsam mit tausenden anderen bei ihren öffentlichen Aufführungen teilnehmen. Dabei gehört es dazu, stundenlang zu schweigen, Reiskörner zu zählen oder Fremden in die Augen zu schauen. Durch die Konzentration soll sich die Wahrnehmung des Ichs und der Welt verändern. Ganz trivial auf den Punkt gebracht: Es ist eigentlich eine Aneinanderreihung von Atem- und Konzentrationsübungen.

Verbindung zum Ich

Marina Abramović: „Ich habe verschiedene Übungen entwickelt, die mir helfen, meine Willenskraft und Konzentration zu stärken. Irgendwann habe ich verstanden, dass diese Übungen nicht nur mir dienen können. Es ist wichtig, sich wieder mit sich selbst zu verbinden.“

Dieser Ansatz öffnet Flanken gegenüber Kritikern. Sich über Abramović oder ihre Fans lustig zu machen fällt leicht. Aber man könnte auch einen anderen Weg wählen – nämlich jenen, sich mit dem Angebot der Künstlerin auseinanderzusetzen und sich darauf einzulassen. Denn letztendlich geht es Abramović immer darum, eine bessere, weniger zynische Welt zu gestalten.

Reis zählen für eine bessere Welt
„Rest Energy“, 1980 Eine selbsterklärende Aktion mit ihrem damaligen Partner Ulay. Mikrofone gaben die Herzschläge wieder.

Foto: Mauritius Images

Abramović: „Für mich geht es nicht um die räumliche Stille um mich herum, sondern um die Stille des Geistes. Wenn man es schafft, diesen Denkraum zu betreten, das ist echte Stille. Die wunderbaren Tibetaner haben ein Wort dafür, sie nennen es Sosein. Es bedeutet Leere, doch voller Bedeutung. Keine leere Leere. Wenn man diese geistige Stille erreicht hat, welche einem die Möglichkeit gibt, die Bedeutung des Lebens zu verstehen, das ist für mich Stille. Aber es ist nicht einfach, da hinzugelangen.“

Und damit wären wir wieder bei den Reiskörnern, die vor mir liegen. Es gibt ein paar Phasen, die jede*r „Abramović-Methoden“-Neuling durchmacht. „Man fängt amüsiert an. Dann ist man total frustriert, weil man nicht fertig wird. Danach wird man wütend. Man verliert die Konzentration, der Kopf spielt verrückt. Aber wenn man alle diese Stadien durchlaufen hat, fängt man irgendwann an, regelmäßig zu atmen, der Geist stabilisiert sich, man bekommt Ergebnisse. Wenn du es schaffst, Linsen und Reiskörner zu zählen, wirst du auch das Leben meistern. Denn das ist es, worum es geht: Disziplin, Selbstkontrolle, Konzentration“, sagt die Künstlerin.

Vom Scheitern und Neustarten

Ich bin bereits einmal vor so einem Reis- und Linsenhaufen gesessen – und glorreich gescheitert. Damals im Palazzo Strozzi in Florenz ging ich schon nach zehn Minuten entnervt zur nächsten Station der Ausstellung.

Ich versuche es also dieses Mal mit einem Trick, den ich von diversen Selbsthypnose-Übungen kenne: Ich atme, visualisiere mein Lieblingsbild – und entschlummere wenige Minuten später sanft über dem Reisteller. Nächster Versuch. Ich atme und beginne zu zählen.

Reis zählen für eine bessere Welt
„Imponderabilia“, 1977 Ulay und Abramović in der Galleria D’Arte Moderna in Bologna nackt als Tür­ rahmen.

Foto: Mauritius Images

Keine halbe Stunde später wische ich genervt die Reiskörner in den Mistkübel und gehe eine Runde, atme und starte erneut. Und diesmal vergesse ich, was Abramović noch über das Reiszählen gesagt hat: „So, wie du Reiskörner und Linsen zählst und sortierst, gehst du mit deinem Leben um. Jeder macht das anders. Das dauert Stunden.“

Ich verrate Ihnen jetzt nur, dass dieser Versuch gut ausging. Probieren Sie es einfach selbst einmal.

Und jetzt noch ein wunderbares Bild von Marina Abramović: „Alles ist Teil von allem. Du bist ein winziges Atom in einer perfekten Struktur. Als Kind dachte ich immer, das Universum ist eine große, fette Dame mit Schuhen mit großen Absätzen. Und wir Menschen leben in diesen Absätzen und werden von ihr herumgekickt.“

Die Abramović-Methode

Grundsätzlich geht es um die Stärkung des Willens, der Geduld und der Erdung. Ziel ist jener Punkt, an dem Zeit keine Rolle mehr spielt.

1. Reis zählen

Eine Packung Reis ausleeren und mit schwarzen Linsen mischen. Ein Blatt Papier
und einen Stift danebenlegen. Zählen.

2. Wasser trinken

Trinken Sie ein Glas Wasser
so langsam wie möglich. Schließen Sie die Augen
und trinken Sie einen winzigen Schluck. Versuchen Sie, den Prozess 50 oder 60 Minuten in die Länge zu ziehen.

3. Langsam gehen

Versuchen Sie, einmal am Tag bewusst sehr langsam zu gehen. Zählen Sie Ihre Schritte und atmen Sie langsam.

4. In die Augen schauen

Die Augen sind das Tor zur Seele. Setzen Sie sich auf einen Sessel, richten Sie den Blick auf Ihr Gegenüber, auf die Stelle zwischen den Augen. Atmen, Zeit vergessen.

Marina Abramović Methode

Foto: Text and images @2021 Marina Abramovic, @2021 Laurence King, an imprint of The Orion Publ. Group, 2nd edition Laurence King Verlag 2022, ISBN 978-3-96244-253-8