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Die isländische Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir.

Die isländische Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir.
Foto: Yael Cohen

„Alice in Wonderland“ als große Oper

MusikTheater an der Wien

In Unsuk Chins surreal schillernder Oper „Alice in Wonderland“ weicht das Märchen der Psychologie. „Wer bin ich?“, lautet die grundsätzlich vergnügliche Gretchenfrage. Aber wer soll das schon wissen?

Merkwürdig erfolgreich. Lewis Carrolls 1865 erschienenes Kinderbuch „Alice in Wonderland“ zählt nicht nur zu den Klassikern der Weltliteratur, sondern ist auch ein metaphernreiches Faszinosum, das nicht mit satirischen Anspielungen spart und sich bestmöglich jeder Logik entzieht. Im Bau des weißen Kaninchens, in den die Titelheldin fällt, trifft Alice auf allerlei seltsames Getier wie zum Beispiel den Schildkrötensupperich – ein Mischwesen aus Kalb und Meeresschildkröte –, wechselt mehrfach ihre Größe, wird beim verrückten Hutmacher zur Teeparty eingeladen und lernt schließlich die blutrünstige Herzkönigin, die unbedingt jemandem den Kopf abschlagen lassen will, kennen. Als es letzten Endes zu einer Gerichtsverhandlung kommen soll, wacht Alice plötzlich auf. Sie war eingeschlafen und hat wahrscheinlich alles nur geträumt.

Diese Traumlogik greift auch die weltweit gefeierte koreanische Komponistin Unsuk Chin in ihrer 2007 uraufgeführten Oper „Alice in Wonderland“ auf und liegt damit in der Stadt Sigmund Freuds wahrscheinlich goldrichtig. Das märchenhafte Ambiente des Buchs tritt zugunsten rätselhafter Bilder in den Hintergrund und lässt noch mehr Raum für psychologische Deutungen.

Blühendes Orchester

Unsuk Chin selbst entzieht sich jeder musikalischen Einordnung, greift humorvoll unterschiedlichste Stile auf und stellt Klangfarben, Licht und Traumsequenzen in den Mittelpunkt.

„Wer bin ich?“, lautet die Kernfrage. Aber lässt sich diese je beantworten? „Ganz sicher nicht – und schon gar nicht in diesem Werk“, lautet die amüsierte Antwort von Regisseurin Elisabeth Stöppler. „Alice wird von einer Stimme aus dem Off animiert, tief zu graben, um ,den Garten‘, die Ruhe, die Schönheit der Natur und letztlich den Frieden in sich selbst zu finden. Stattdessen stößt sie auf harten Boden, ehe sie am Ende doch noch an Licht und Sonne gerät. Das ist für mich eine Art Energiemoment. Man wird nie lösen können, wer man ist, kann sich aber auf produktive Weise dem Leben stellen.“

Unsuk Chin sei nicht interessiert gewesen am Mädchen von nebenan – Lewis Carroll hat in Alice bekanntlich seine kleine Nachbarin porträtiert –, sondern habe sich an etwas Übergeordnetem orientiert. „Wir sehen einem Menschen dabei zu, mit den seelischen Irrungen und Wirrungen im Prozess des Erwachsenwerdens – gegen alle Widerstände – fertig zu werden.“ Das Unbewusste übernimmt die Führung. Nicht umsonst bettet die Komponistin das Stück zwischen einen „Dream 1“ genannten Prolog und den Epilog „Dream 2“ ein.

Zur Person: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir

wuchs in Island auf, studierte Gesang in Berlin, gewann zahlreiche Preise und war vier Jahre lang Ensemblemitglied am Theater Basel. 2023 erschien ihr Debütalbum „Poems“, das sie mit dem Pianisten Viktor Orri Árnason aufnahm. Für 2025/26 ist sie als ECHO Rising Star nominiert und wird im Rahmen dessen mit drei eigenen Programmen auf Europatournee gehen. Mit der Titelrolle in Unsuk Chins Oper „Alice in Wonderland“ gibt die Sopranistin ihr Debüt am MusikTheater an der Wien.

„Mich hat an dieser Arbeit interessiert, dass die größten Themen und schwierigsten Fragestellungen mit unglaublicher Leichtigkeit und enormem Witz abgehandelt werden. Das Stück hat eine außergewöhnliche klangliche Multispektralität, was die Instrumentation und die Rhythmen betrifft. Es ist flirrend, schlagwerklastig und changiert vom tragischen Arioso bis zur völlig verjazzten Nummer.

Das Orchester blüht und glitzert. Immer, wenn es dramatisch wird, kommt etwas Leichtes um die Ecke. Alice selbst bleibt ja auch nie lange in einer Stimmung. Auf das Lebensbejahende folgt das Morbide. Und umgekehrt.“ Auch das ist Wien. Elisabeth Stöpplers Vater ist übrigens Psychiater a. D., ihre Mutter Internistin. „Musik und Literatur waren bei uns zu Hause essenziell. Das Lesen war wahrscheinlich das Allerwichtigste und ich begreife auch heute jede Partitur wie einen Text.“ Sie hat Klavier in Hannover, Schauspiel in Rom und Musiktheaterregie in Hamburg studiert. Warum hat sie sich für das Inszenieren entschieden?

„Weil ich dabei den Überblick behalten und Welten kreieren kann. Wenn man Klavier spielt, sitzt man allein auf dem Podium und ist auf seine zehn Finger konzentriert. Ich aber liebe die Arbeit im Team und das Zusammenspiel der Gewerke.“ Und den Gesang, weshalb sie vorwiegend Oper inszeniert. „Aber ich sehe das Schauspiel ohnehin in das Musiktheater integriert. Auch wenn das Medium ein anderes ist, interessiert es mich, singende Menschen auf der Bühne mit demselben Habitus zu sehen wie Schauspieler.“

Elisabeth Stöppler studierte Musiktheaterregie, inszenierte unter anderem an der Semperoper Dresden, der Staatsoper Berlin sowie bei den Bregenzer Festspielen und war Hausregisseurin am Staatstheater Mainz. Ihre Inszenierung von Bernhard Langs „Dora“ 2024 an der Staatsoper Stuttgart wurde als Uraufführung des Jahres ausgezeichnet.
Foto: Sandra Then
Elisabeth Stöppler studierte Musiktheaterregie, inszenierte unter anderem an der Semperoper Dresden, der Staatsoper Berlin sowie bei den Bregenzer Festspielen und war Hausregisseurin am Staatstheater Mainz. Ihre Inszenierung von Bernhard Langs „Dora“ 2024 an der Staatsoper Stuttgart wurde als Uraufführung des Jahres ausgezeichnet.

Viel mehr als Björk

Da hat sie im Falle von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir ja richtig Glück. Denn auch die isländische Sopranistin mit Faible für zeitgenössische Musik schätzt es, sich darstellerisch zu verwirklichen. „Moderne Rollen wie Alice sind für mich deshalb spannend, weil man dabei mehr von sich zeigen kann als beispielsweise in einer Mozart-Oper. Hier haben wir etwa diese Art Sprechgesang und auch wenn Unsuk Chin sehr genau komponiert hat, ist die Freiheit der Interpretation größer. Zudem hat es mich gereizt, die Verantwortung einer Titelpartie zu übernehmen.“

Sie fühle sich der Rolle auch menschlich sehr nahe. „Alice hat eine große Neugier und eine pure Ehrlichkeit. Bei ihr ist alles sehr klar. Man sollte also auch stimmlich aufrichtig sein und nicht, wie beim klassischen Gesang, in erster Linie danach trachten, einem bestimmten Klang zu entsprechen. Zudem schätze ich es, unterschiedliche Genres bedienen zu dürfen. Es gibt Blues, schnellen Rap, aber auch Kinderlieder. Stilistisch passt das alles wunderbar in einen Topf.“

Sie habe das Buch gar nicht gelesen, sondern „Alice in Wonderland“ erst als Oper kennengelernt. „Aber ich konnte mich schnell mit dieser Figur identifizieren, denn ich bin in Island am Meer aufgewachsen, umgeben von Natur und Tieren. Meine Katze damals hatte exakt denselben Korb, wie wir ihn nun auf der Bühne verwenden“, erzählt sie lächelnd.

Welche Relevanz hat klassische Musik in der Heimat von Elfen und Geysiren? „Vor allem der Gesang hat bei uns eine große und lange Tradition. Wir waren ja lange isoliert vom Kontinent, hatten kaum Infrastruktur und sind im Wesentlichen bei Kirchentonarten geblieben. Später kam die Kultur ins Land und wir haben schnell gelernt. Mein Vater ist Dirigent, meine Mutter Musiktherapeutin, ich selbst hatte meine erste Gesangsstunde mit drei Jahren und habe während meiner ganzen Kindheit in Chören gesungen, von denen es in Island viele gibt.“

Als kleines Mädchen sei sie sicherlich nervig gewesen, bei jeder Gelegenheit habe sie mit ihren Puppen Opern aufgeführt und die Erwachsenen als Publikum verpflichtet. Beruflich war also schon früh alles klar, wobei sich Álfheiður Erla Guðmundsdóttir künstlerisch heute auch als Fotografin und Videofilmerin betätigt.

„Rising Star“ on Tour

Die letzten Jahre am Theater Basel seien sehr lehrreich gewesen, weil man sich im Ensemble rasch ein breites Repertoire erarbeiten könne. „Jetzt aber genieße ich die Zeit als Freelancerin, weil ich mehr Entscheidungsfreiheit habe und auch Rollen wie die der Alice annehmen kann.“

Aktuell wurde sie zum ECHO Rising Star 2025/26 nominiert. Die Abkürzung steht für European Concert Hall Organisation und lässt die Absicht bereits vermuten. „Ich konnte völlig frei drei Programme gestalten, mit denen ich heuer und im nächsten Jahr durch 18 europäische Städte toure.“ Den Anfang machte sie am 20. September in Lyon mit Musik von Henry Purcell bis Molly Drake. Anfang Oktober brillierte sie im Amsterdamer Concertgebouw, unter anderem mit dem 18-minütigen A-cappella-Stück „Lady Lazarus“ von Aribert Reimann nach dem gleichnamigen Gedicht von Sylvia Plath.

Ähnlich Spektakuläres darf sich am 19. Mai 2026 auch das Publikum im Konzerthaus erwarten. „Ich mag es einfach, neue Wege zu gehen. Und dazu zählt nun auch mein Wien-Debüt.“

Hier geht es zu den Spielterminen von Alice in Wonderland im MusikTheater an der Wien!

Linke Wienzeile 6
1060 Wien
Österreich

Erschienen in
Bühne 09/2025

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