BÜHNE: Wer ist Serge?

Roland Koch: Der älteste von drei Geschwistern, ein Mann in der zweiten Lebenshälfte, dem gerade die Felle wegschwimmen, der einen Schatten auf der Lunge hat, dem seine Luftgeschäfte entgleiten. Einer, der mal auszog den anderen das Fürchten zu lehren und jetzt Angst vor der anstehenden Diagnose hat.

Waren Sie schon mal in Auschwitz?

Nein, ich war nie in Auschwitz, jedoch in Buchenwald.

Anzeige
Anzeige

Können Sie Jeans Gedanken nachvollziehen, der sich fragt: Sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in der Geschichte zu entsorgen?

Mahnungen haben noch nie nachhaltig etwas bewirkt, sie haben etwas von Zurechtweisung und produzieren diffuse Schuldgefühle. Wenn keine emotionale Verknüpfung zwischen dem Einzelnen und dem Ereignis, dem zu gedenken ist, hergestellt werden kann, verhallt der Gedenkappell. Das ist der Grund, warum die Zeugnisse der Holocaustüberlebenden und die Konfrontation der Täter mit ihren Taten eine größere Wirkung erzeugen, als Betonskulpturen. Wie man mit diesem „Erbe“ umgeht, wenn es keine Überlebenden mehr gibt, ist die Frage.

Roland Koch
Dietmar König, Michael Maertens, Roland Koch und Johannes Zirner in Shakespeares „Der Sturm“.

Foto: Matthias Horn


Wie sollte Erinnerungskultur gehen? Wie wird Erinnerung nicht einfach zu einem Denkmal, dass nur in der Gegend herumsteht?

Erinnerungskultur kann nicht verordnet werden. Was ich bin, ist die Summe meiner Erinnerung, auch was mein Körper erinnert. Das ist alles in mir gespeichert und hat Einfluss auf meine Gegenwart und meine Zukunft. Alles „Material“, das ich bearbeite, das ich manipuliere und benötige, um der bohrenden Frage „Warum das alles”, wenn man dann doch stirbt, entgegenzutreten. Das heißt, sofern meine Erinnerungen nicht nur traumatische sind, sind sie Quelle von Fantasie und Energie.
Erinnerungskultur ist folglich nicht nur Blick zurück, sondern gleichermaßen Kraftschöpfen für die Zukunft.

Das klingt ein wenig pathetisch, aber die Frage verlangt auch nach Pathos. Die Voraussetzung, dass ich mich als Einzelner mit der Gesellschaft und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen will, verlangt ein Mindestmaß an Identifikation mit den Werten. Fühlt man sich ausgegrenzt, aus welchen Gründen auch immer, wird man sich für Erinnerungskultur nicht interessieren. Diese Ausgrenzungsmechanismen müssen erkannt, benannt und vermieden werden. Auch das liegt in der Verantwortung des Einzelnen. Theater ist Erinnerungskultur, ein Ort, wo wir gemeinsam in einem öffentlichen Raum unsere Gewalttätigkeit, Lächerlichkeit, Liebesbedürftigkeit und Endlichkeit vergegenwärtigen.

Wie sehr stört sie die Vergänglichkeit unseres Seins?

Wenn es um nur um eine Störung ginge, könnte man geeignete Maßnahmen ergreifen, um sich gegen dieses unumstößliche Verdikt zur Wehr zu setzen. Aber es ist keine Störung, sondern die Voraussetzung für alle Emotionsamplituden, denen wir ausgesetzt sind. Ohne Vergänglichkeit gäbe es kein Unglück, aber auch kein Glück und darauf würde ich ungern verzichten.

Wie sehr beschäftigt Sie ihr eigenes Altern?

Anzeige
Anzeige

Ich habe nie verstanden, warum die Leute Angst hatten vor dem 30., 40., 50., 60. Geburtstag, ich habe immer gesagt: Das Beste kommt noch! Das sage ich immer noch.

Stimmen Sie meinem Großvater zu, der immer gesagt hat: Altern findet nur im Kopf statt?

Ich hoffe eigentlich, dass es möglichst lange im Kopf nicht stattfindet.

Umberto Eco sagt: Lachen ist die Kunst der Vernichtung von Angst. Was sagen Sie?

Das ist mir zu kompliziert. Vielleicht klingt das italienisch besser, aber deutsch übersetzt, klingt das so umständlich, dass mir der Humor abhandenkommt. Wie sagte ein anderer berühmter Nachdenker: „Humor oder das Lachen zu erklären, ist wie einen Frosch zu sezieren, es interessiert die wenigsten und der Frosch stirbt daran.“

Das Leben ist so ein bisschen wie die Filme von Buster Keaton. Lauter aberwitzige Stunts, die man eigentlich nicht überleben kann, dennoch steht Keaton am Ende immer melancholisch verwundert über Geschehene in der Landschaft.

Roland Koch


Das Wissen um das Gespenst der Bedeutungslosigkeit, von dem wir alle verfolgt werden, bewegt die Protagonist*innen von Serge. Wie sehr bewegt es Sie?

Wenn wir heute über den Begriff der Bedeutungslosigkeit sprechen, meint man vor allem von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen zu werden oder nicht medial in Erscheinung getreten zu sein.. Die Angst vor diesem Gespenst kommt aus einem ähnlich medial erzeugten Raunen, wie die Begriffe: Selbstverwirklichung, Work-Life-Balance, Wohlfühloase, Ausgleichssport, Grundfitness usw. Warum hat man das alles nicht, wenn das doch Grundvoraussetzungen, Zulassungskriterien für ein glückliches Dasein sind.

Übers GANZE gesehen sind wir alle bedeutungslos und das ist völlig in Ordnung und auch nicht so anstrengend. Einige haben es geschafft, Aufmerksamkeit zu erregen, die über einige Generationen hält. Das Licht erfunden, Mondspaziergänge gemacht, die kleine Nachtmusik komponiert, Yellow Submarine gesungen. Aber die meisten Dinge, die wirklich von Bedeutung sind, geschehen im Verborgenen, sind klein und unspektakulär und bekommen keinen Applaus.

Was darf Humor?

Humor kann viel, aber darf niemals jemanden herabsetzen.

Was ist ihr Lieblingswitz?

Ich muss über Witze selten lachen. Ich mag mehr so eine Art Alltagskomik. Wenn jemand stolpert mit zwei vollen Einkaufstüten und sich gerade noch auffangen kann und dann reißt die Tüte und die Melone rollt weg und ein Junge spielt sofort Fußball damit. Joe Biden stolpert die Gangway hoch – er tut mir natürlich leid, aber ich muss leider lachen. Ich liebe Wortverdreher. Kürzlich wollte jemand mir was über Schlafentzug erzählen und sagte Schlafanzug, ein weiteres Gespräch war nicht mehr möglich. Meine Kinder lachen bis heute darüber, dass ich am Gipfel des Berges angekommen, gesagt habe, jetzt bin ich aber Franz froh anstatt ganz froh, weil ich so unterzuckert war.

Roland Koch
Roland Koch und Mavie Hörbiger in „Komplizen“ im Burgtheater.

Foto: Marcella Ruiz Cruz


Frustriert Sie das Wissen: Es kann alles wieder geschehen?

Ja, es ist ernüchternd, dass nach all den gewonnenen Erkenntnissen der letzten 6000 Jahre Kriege stattfinden, die aussehen wie vor 6000 Jahren.
Dass die Zerstörung von Ressourcen mit großer Intensität weiter betrieben wird und „Wachstum“ die einzige Vision ist, mit der man glaubt die Zukunft besser zu gestalten. Dennoch bin ich paradoxerweise nicht pessimistisch und glaube, dass Veränderung möglich ist. Wach bleiben und springen wenn es drauf an kommt. Corriger la Fortune! Das Leben ist so ein bisschen wie die Filme von Buster Keaton. Lauter aberwitzige Stunts, die man eigentlich nicht überleben kann, dennoch steht Keaton am Ende immer melancholisch verwundert über Geschehene in der Landschaft.

Ihr Lehrer Lecoq schickt seine Schüler auf eine Reise in ihr Inneres. Was haben Sie dabei gefunden?

Ich muss jetzt mal mit der Legende aufräumen, ich hätte eine Lecoq-Ausbildung abgeschlossen. Ich habe mich in Paris herumgetrieben und die Schule war für mich ein Notausgang, falls ich es nicht an eine deutschsprachigen Schauspielschule schaffen sollte. Ich habe es in Zürich geschafft, sonst würde ich jetzt in der Kärtnerstraße mit Hüten jonglieren oder Stand up-Comedy in irgendeinem herrlich runtergekommenen Varieté machen, was auch nicht falsch wäre.

Woran erkennt man den Pantomimen in Ihnen?

Ich kann wahnsinnig gut stolpern und gegen unsichtbare Türen laufen, ich versuche in jedem Stück, dass ich spiele eine kleine Slapsticknummer oder ein bisschen Stand up einzubauen auch in Tragödien, eigentlich vor allem da!

Zur Person: Roland Koch

wurde 1959 in Uezwil, Schweiz, geboren. Er studierte zunächst Psychologie und Ethnologie an der Universität Zürich, besuchte dann die Schauspielschule Zürich. Nach Engagements in Celle, Konstanz, Hannover, an der Berliner Volksbühne und am Münchner Residenztheater ist er seit 1999 Ensemblemitglied des Burgtheaters. Seit Ende 2011 ist im Ermittlerteam des Tatort Konstanz in der Rolle des Matteo Lüthi zu sehen. 2015 wurde er mit dem Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Beste Nebenrolle“ ausgezeichnet.

Zu den Spielterminen von „Serge“ im Akademietheater!