Geht das Gespenst schon wieder um? Ich meine nicht das Gespenst des Kommunismus, das Marx und Engels am Beginn ihres „Kommunistischen Manifests“ auftreten lassen. Ich meine das Gespenst einer Gesinnungs- und Denkpolizei. Wer in Zukunft Förderungen von der Stadt Wien haben möchte, so der Wunsch einiger Vordenker der Österreichischen Volkspartei, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er irgendwann in den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels gelesen hat. Wenn ja, dann nein.

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Ich nehme an, die Verbieter haben, was sie verbieten wollen, selbst nicht gelesen – ebenso wenig, wie Ayatollah Khomeini und seine Häscher „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie gelesen haben.

Darum hier eine ganz und gar unvollständige indirekte Einführung in die Werke der beiden – indirekt, weil Sie selbst dabei sauber bleiben, Sie dürfen aussagen, Sie haben die inkriminierten Bücher nicht einmal angefasst.

Im Jahr 1845 erschien die Sozialreportage „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von Friedrich Engels. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt. Nach zahlreichen kürzeren Aufenthalten in England reiste er für ein Jahr in die Städte London, Liverpool, Manchester, Nottingham, Glasgow und andere Industrieregionen und studierte das Leben der Arbeiter. Wenn man sein Alter und die Tatsache berücksichtigt, dass die Soziologie mit ihrer wissenschaftlichen Feldforschung erst in ihren Anfängen stand, ist das schmale Buch, das der Autor als Ergebnis seiner Beobachtungen vorlegte, eine Sensation.

Noch heute nennt die UNESCO diese Reportage „ein Meisterwerk der Analyse“ – ich möchte doch nicht glauben, dass die Vertreter der Österreichischen Volkspartei diese Organisation als linksradikal einstufen. Vorbild für Engels waren übrigens keine Sozialisten, sondern der englische Dichter Charles Dickens, der keine zehn Jahre zuvor in seinem Roman „Oliver Twist“ die Missstände der verelendeten Massen anprangerte und damit großen Einfluss auf die englische Sozialgesetzgebung ausübte.

Diese Analysen sind bis heute in ihrer Klarheit unübertroffen – wenngleich, wie gesagt, nicht einfach zu lesen – und für jedermann, der sich für Ökonomie interessiert, erhellend, nicht nur für Sozialisten und Kommunisten.

Michael Köhlmeier über die Schriften von Marx

Ein anderes Vorbild war Jonathan Swift, der Dichter von „Gullivers Reisen“, der hundert Jahre früher in der wohl bittersten Satire der Weltliteratur gegen die Armut in Irland wetterte – Titel: „Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können“. Darin regt er an, die vielen bettelnden Kinder einzufangen, zu schlachten und den Reichen als Speise zu verkaufen.

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Während Engels an diesem Buch schrieb, lernte er Karl Marx kennen, und die beiden beschlossen, in Hinkunft zusammenzuarbeiten. Marx war beeindruckt von dem Werk. Manche Historiker sind der Meinung, „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ habe in Marx die Idee reifen lassen, dem Klassenkampf und der Revolution der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker, der Armen gegen die Reichen eine wissenschaftliche Basis zu geben. Marx habe Engels schließlich dazu aufgefordert, gemeinsam mit ihm das „Kommunistische Manifest“ zu schreiben.

Warum soll man Engels nicht lesen dürfen?

Und Marx? – Sein Hauptwerk, an dem er Jahrzehnte gearbeitet hat, ist „Das Kapital“. Wohlgemerkt, das Buch heißt nicht „Der Klassenkampf“ oder „Die Diktatur des Proletariats“, sein Untertitel lautet: „Kritik der politischen Ökonomie“. Und das ist es – eine Analyse des Kapitalismus zur Zeit ihres Verfassers.

Ich gestehe, ich habe mich durch die drei Bände geackert. Das war nicht leicht, die Sprache von Marx, im Unterschied zu der seines Freundes Engels, ist sperrig, dem Gegenstand entsprechend. Auch Marx beruft sich in seinem Werk nur selten auf sozialistische Autoren, seine Hauptquellen sind Wissenschaftler der bürgerlichen Nationalökonomie, vor allem Adam Smith und David Ricardo.

Die Untersuchung der Ware im ersten Band, der sich dem Produktionsprozess des Kapitals widmet, die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert, die Unterscheidung zwischen konstantem und variablem Kapitalteil und wie daraus der Mehrwert entsteht, weiters die Darstellung, wie aus dem Mehrwert der Profit wird. Diese Analysen sind bis heute in ihrer Klarheit unübertroffen – wenngleich, wie gesagt, nicht einfach zu lesen – und für jedermann, der sich für Ökonomie interessiert, erhellend, nicht nur für Sozialisten und Kommunisten.

Marx’ frühe Schriften, wie die sogenannten „Pariser Manuskripte“, widmen sich vornehmlich der Philosophie, ebenso der Band „Deutsche Ideologie“, den er zum Teil gemeinsam mit Engels verfasste und in dem er sich mit dem Individualanarchisten Max Stirner und seinem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“, dem heute vergessenen Theologen Bruno Bauer und vor allem mit Ludwig Feuerbach, dem ersten deutschen materialistischen Philosophen und einem der schärfsten Kritiker des Christentums, auseinandersetzte.

Bekannt die „Thesen über Feuerbach“, deren elfte und letzte da heißt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.“ Marx selbst war wie die Genannten geschult an der Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen dialektische Methode wendete er in seiner Kritik an. Die Entwicklung der Historischer Materialismus genannten Geistesrichtung nimmt bei diesen Werken ihren Ausgang.

Ich gestehe, auch diese Werke habe ich gelesen.

Ich gestehe weiters, ich habe obendrein das „Kommunistische Manifest“ gelesen. Ich habe in den Siebzigerjahren in Marburg an der Lahn in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem Politikwissenschaft studiert, und da gehörte Marxismus zum Lehrstoff. Wie auch nicht? Immerhin hat diese philosophische, ökonomische und politische Weltanschauung wie keine andere das 20. Jahrhundert geprägt.

Was wird jetzt aus mir? Ich habe zwar nicht vor, um irgendwelche Förderungen der Stadt Wien anzusuchen, habe auch bisher keine solche in Anspruch genommen. Aber wer weiß, vielleicht werden in naher Zukunft staatlich geprüfte Leseexperten in die Haushalte der üblichen Verdächtigen geschickt, um dort die Bücherregale zu inspizieren. Dann wird’s eng für mich.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou