Eintauchen in Hitlers Badewanne
Staraufmarsch im NEST: Jan Lauwers inszeniert. Kate Lindsey singt, Romy Louise Lauwers spielt. Das Werk: eine Oper über (Kriegs-)Fotografin Lee Miller. Was das wird und wie das klingt, lesen Sie hier.

Foto: Sofia Vargaiová
Lust auf Hitlers Badezimmer? Ab Anfang Juni steht es auf der Bühne des NEST (Neue Staatsoper) am Wiener Karlsplatz. Der Grund: Einer der innovativsten und größten Regiekünstler der Gegenwart (Jan Lauwers) wird gemeinsam mit einer der größten und farbigsten Stimmen der Jetztzeit (Kate Lindsey) eine Oper über eine der schillerndsten, interessantesten und schwierigsten Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts (Lee Miller) zur Uraufführung bringen.
Die Musik dazu schrieb Maarten Seghers. Außerdem mit dabei: Romy Louise Lauwers – Performerin, erfolgreiche (Film-)Schauspielerin und Jan Lauwers’ Tochter.
Aber jetzt zurück zum Stück: Lee Miller war Model, Kriegsberichterstatterin und Fotografin. Eine mutige und komplexe Persönlichkeit, die als Kind von einem Bekannten der Familie missbraucht wurde, später verfiel sie dem Alkohol, fing sich wieder und wurde zur gefragten Porträtfotografin.
Ihr berühmtestes Bild: sie selber – sitzend in Hitlers Badewanne. Das Foto wurde in der Münchner Wohnung des Diktators nach Kriegsende aufgenommen.
Vor der Badewanne stehen die Schuhe von Lee Miller – auf ihnen getrockneter Schlamm aus dem KZ Dachau, das Lee Miller zuvor besucht hat.
Fragen statt Biopic
Daraus also eine Oper machen? – Regisseur Jan Lauwers: „Ich schrieb ,Lee Miller in Hitler’s Bathtub‘, weil ich Kate Lindsey traf. Während meiner Zusammenarbeit mit ihr im Jahr 2021 in Monteverdis ‚L’incoronazione di Poppea‘, wo sie die Rolle des Nerone spielte, wusste ich, dass ich für sie schreiben würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das berüchtigte Foto von Lee in Hitlers Badezimmer in meinem Atelier. Das Foto hing schon länger dort, weil ich zum Thema Wahrheit und Fotografie im Zusammenhang mit der Verwendung von Bildern in den sozialen Medien recherchiert hatte.“
Also geht es ums Foto? Um Lee Millers Leben? Lauwers schüttelt den Kopf.
„Das Libretto erzählt nicht Lees Geschichte von Geburt bis Tod. Als Autor fasziniert mich die moralische Unklarheit Lees als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Machtspiele rücksichtslos gespielt werden. Was bedeutet es für Lee, dass sie sich für ein Bad in der Badewanne des Monsters entschied? Was bedeutet es darüber hinaus, sich dort fotografieren zu lassen? Was bedeutet es für ihre Fotografie und die Tatsache, dass sie in Dachau Leichen der Beleuchtung wegen neu arrangierte?“

Foto: Sofia Vargaiová
Die doppelte, parallele Lee
Es wird Lee Miller zweimal geben. Einmal eben Kate Lindsey und einmal Romy Louise Lauwers.
„Kate und Romy haben mich zu einem Doppelporträt inspiriert. Zwei phänomenale Darstellerinnen. Warum zwei Frauen? Erstens, weil ich keine Biografie schreiben wollte. Ich habe mich nicht eingehend mit Lees Leben auseinandergesetzt. Das Libretto porträtiert eine Frau, die sich am Ende ihres Lebens wie eine ausgemolkene Kuh fühlte. Eine Frau im Schatten vieler Männer. Berühmter Männer. Berüchtigter Männer. Ich wollte nicht mehr Lee porträtieren, sondern so viele Frauen der Kunstgeschichte, denen das Wort verboten wurde.“
Wie man das als Publikum verstehen darf? Wir fragen bei jener Person nach, die Jan Lauwers wohl am besten kennen sollte – seiner Tochter. „Wir sind nicht die alte und die junge Lee, wir sind immer die gleiche Lee. Es gibt in den Arbeiten der Needcompany (von Grace Ellen Barkey und Jan Lauwers 1986 gegründetes Theaterkollektiv; Anm.) immer wieder diese Metaebene, man kann aber auch man selber sein.“
Ein Beispiel? „Ich kann über Lee als Kate sprechen. Ich kann in dem Stück über mich selber als Lee sprechen und auch über Lee, als wäre sie nicht mehr da, und Lee kann mit Lee in den Dialog treten. Sich selber kritisch gegenüberstehen. Dadurch haben wir viele Möglichkeiten, Lee Miller zu analysieren, sie zu bewundern. Ich denke, das ist die respektvollste Art, sie zu porträtieren, um ihr die Anerkennung zukommen zu lassen, die ihr zusteht.“

Foto: Sofia Vargaiová
Das sagt der Komponist
Es werden fünf Musiker mit auf der Bühne sein und rund um Hitlers Badewanne sitzen.
Komponist Maarten Seghers: „Die Zusammenstellung des fünfköpfigen Ensembles aus Schlagzeug, Streichern, Posaune und Kontrafagott ist getrieben von der Suche nach dem Moment, in dem das autonome Instrument und sein Klang körperlich werden und der Instrumentalist zur Körperlichkeit wird. Es wird durch den Dreck geschuftet, nicht über den Wolken geschwebt.“
Alles klar, aber dann auch wieder nicht. Es ist an der Zeit, jene Frau zu Wort kommen zu lassen, die Maarten Seghers’ Musik zum Glänzen bringen wird: Ausnahmestimme Kate Lindsey. Sie lacht, als wir fragen.
„Musik kann den Subtext jeder Figur verstärken. Als ich Maartens Musik das erste Mal gehört habe, musste ich an die großartige TV-Serie ‚Succession‘ denken. Maarten Seghers’ Musik ist brillant. Über Lee Millers Leben gibt es vieles, das nie gesagt wurde. Sie lebte ohne Regeln, und Maartens Musik liefert uns ein wenig tiefere psychologische Erklärungen oder Impulse dafür, wie Lee Miller das wurde, was sie war. Wir bewegen uns zwischen Dialog und Gesang, und es gibt Momente, in denen die Musik den Dialog begleitet. Es ist sehr vielschichtig, und was Maarten gelungen ist: Er hat mit seiner Musik Lee Millers Wesen eingefangen. Wir haben sehr nüchterne und sehr verletzliche Momente, aber es gibt auch Szenen, in denen wir das psychologische Chaos hören werden, in das wir uns alle durch die Musik hinversetzen können.“

Foto: Sofia Vargaiová
Intimes Singen im NEST
Normalerweise singt Kate Lindsey am großen Haus vor über 2.000 Menschen, im NEST sind es knapp 250. Fliegt da nicht das Dach weg, wenn Kate Lindsey mit ihrem normalen Singvolumen loslegt? Die Sängerin lacht.
„Ja, ich muss mir im NEST tatsächlich keine Sorgen machen, laut singen zu müssen. Es ist ein sehr intimer Rahmen – und es ist
mein Ziel, den Text so exakt wie möglich zu performen. Auf großen Bühnen müssen wir zugunsten der Klangfülle manchmal die Klarheit des Textes opfern. Die Orchestrierung ist im NEST viel weniger schwerfällig, wir sind alle zusammen auf der Bühne und eng miteinander verbunden. Es gibt ein Lied namens ‚Breathing Song‘. Die Musiker variieren immer wieder den Rhythmus, und ich schließe mit den Worten ‚atmen, atmen, atmen‘.“
Kate Lindsey beginnt zu singen, und die Atmer klingen zuerst laut, wie Keuchen, dann werden sie leiser. Es ist wie eine Art geatmeter Boléro.

Foto: Sofia Vargaiová
Alles Kunst. Nichts ist falsch.
„Das Lied spielt mit dem Klang. Es ist, als würde man jemanden beim Sterben zusehen und zuhören. Es ist aufregend für eine Sängerin, so etwas zu machen – vor allem, wenn man nicht den Druck hat, vor Tausenden von Menschen zu spielen. Wir können hier sehr frei einen Klang suchen, der uns innehalten lässt.“ Sie lächelt nachdenklich und setzt nach:
„Hier auf der Bühne im NEST kann man nichts verbergen, und das ist auch ein wenig furchteinflößend, aber ich habe ein Motto für das Projekt: ,Lauf der Gefahr entgegen‘. Mir hilft da sehr die Arbeitsweise von Jan Lauwers: Er sieht alles als Kunst. Nichts ist falsch. Es geht eher darum, wie wir uns weiter definieren.“
Und wie schwierig ist es, „Neue Musik“ zu singen? „Neue Musik zwingt mich, darüber nachzudenken, wie ich Dinge sehe und wie ich sie lerne. Wie ich mein Gehirn trainiere, um mich dann auf mein Muskelgedächtnis beim Singen verlassen zu können. Es ist ein sehr fokussierter Prozess, weil es keine Traditionen gibt, keinen Vergleich. Ich fühle mich dadurch sehr befreit. Ich kann nach all den Jahren des Lernens und Weiterlernens und Kennenlernens meines Instruments anfangen loszulassen. Ich werde mit Klängen spielen und sehen, was passiert.“
Hier auf der Bühne im NEST kann man nichts verbergen – es ist ein intimer Rahmen. Das ist furchteinflößend.
Kate Lindsey, Ausnahmesängerin
Wie arbeitet man mit dem Vater?
Romy Louise Lauwers ist zwar kein Teil der Needcompany, arbeitet aber – so wie mit ihrem Vater – immer wieder mit der Gruppe zusammen. Sehr konzentriert und fast nonverbal agieren die beiden bei den Proben, wie uns Kate Lindsey erzählt.
Romy Louise Lauwers lächelt: „Ich sage immer, die Beziehung zu meinem Vater ist die gemeinsame Arbeit. Meine Mutter und ich haben die Energie von Freundinnen – zwischen mir und meinem Vater ist es Arbeitsenergie. Wenn wir privat telefonieren, sind diese Telefonate sehr kurz. Beim Arbeiten aber haben wir uns gefunden. Ich liebe es, bei seinen Projekten dabei zu sein.“ (Lacht.)

Foto: Sofia Vargaiová
Die Eisskulptur
Die Eispuppe am Foto sollten wir noch erklären: Lee Miller wurde als Kind von einem Bekannten der Familie vergewatigt. Die Skulptur basiert auf dem Foto, das ihr Vater am Tag nach ihrer Vergewaltigung aufgenommen hatte.
Die Eisskulptur ist lebensgroß und schmilzt während der Aufführung. Unsere Empfehlung: Karten sichern.