Mehrstufige Beschäftigung
Regisseurin Therese Willstedt widmet sich mit der „Auslöschung“ einem der komplexesten Werke Thomas Bernhards und entwickelt einen Zugang, der die Absurdität des Menschseins in all ihren unterschiedlichen Abstufungen zeigt.
Wie nimmt man einen Roman auseinander, um ihn anschließend als Theaterstück wieder zusammenzusetzen, wenn es darin um einen Menschen geht, der seinerseits alles, inklusive sich selbst, auseinandernehmen möchte? Wie kann die Setzung für eine Zersetzung aussehen? Und wie der Aufbau für eine Auslöschung?
Es ist kurz nach neun. Scheinbar viel zu früh für solch komplexe Fragen, auf die es mit großer Wahrscheinlichkeit – schließlich werden wir gleich über Thomas Bernhard sprechen – auch keine eindeutigen Antworten gibt. Oder vielleicht doch? Norman Hacker und Therese Willstedt sind auf jeden Fall in Redelaune und haben große Lust darauf, immer kleinere Kreise um diese großen, scheinbar widersprüchlichen Fragestellungen zu ziehen. Um sich noch schnell einen Kaffee zu holen, umkreist der Schauspieler, der seit 2019 zum Ensemble der BURG gehört, jedoch zunächst einmal den schwarz lackierten Holztisch, der als Ort für unser Gespräch auserkoren wurde.
Zwei Minuten später nimmt er neben der in Schweden geborenen Regisseurin Platz. Direkt hinter den beiden erstrecken sich mit rotem Stoff verkleidete Stufen bis fast ganz unter die Decke des Raums. Es ist das Probebühnenbild für Therese Willstedts Inszenierung des letzten Bernhard-Romans „Auslöschung. Ein Zerfall“.
„Ich habe mir ein Bühnenbild gewünscht, das es ermöglicht, Intimität zwischen dem Publikum und den Spielenden herzustellen, was an einem so großen Haus wie dem Burgtheater eine Herausforderung ist“, erklärt die Regisseurin und setzt nach: „Und ich wollte etwas finden, das in seiner Massivität etwas Überwältigendes hat, weil ich glaube, dass sich darin das Gefühl, das der Protagonist durchlebt, als er an den traumatischen Ort seines Aufwachsens zurückkehrt, gut widerspiegelt.“
Plötzlich hat man das Gefühl, Zwölftonmusik zu spielen. Man spürt noch, was Bernhard meint, versteht es aber nicht mehr.
Norman Hacker, Schauspieler
Norman Hacker stuft die Sache folgendermaßen ein: „Das ist ein Bühnenbild, das durch seine Einfachheit besticht. Es lässt alle Möglichkeiten offen. Als Spieler*innen können wir auf dieser Bühne alles behaupten und sind – weil wir so exponiert sind – nicht gezwungen, jede Aktion zu vergrößern.“
Therese Willstedt, die in der vergangenen Spielzeit mit „Orlando“ ihr gefeiertes Wien-Debüt gab, möchte noch etwas genauer darauf eingehen, wie ihr Wunsch nach Intimität zwischen Publikum und Spielenden mit dem Inhalt des Monologs, der im Original mehr als 600 Seiten umfasst, zusammenhängt. „Auslöschung“ sei nämlich kein Text, der sich ausschließlich mit der österreichischen Vergangenheit und deren (fehlender) Bewältigung befasst, wie die Regisseurin anmerkt. „Es geht darum, das Wertefundament, auf dem wir unsere Gesellschaft errichtet haben, zu hinterfragen. Die Reflexion darüber, ob wir es in dieser Form aufrechterhalten wollen, betrifft mich genauso wie die Spieler*innen und die Menschen im Publikum.“
wurde in Enns geboren und war im Laufe seiner Schauspielkarriere am Schauspielhaus Graz, am Thalia Theater Hamburg und am Münchener Residenztheater engagiert. Seit 2019 ist er Teil des BURG-Ensembles.
Gedanken sezieren
Und schon haben wir auf unserem Weg durch den Bernhard’schen Gedankenkosmos das erste Stockwerk überwunden. Ganz ohne anfängliche Schwellenangst und auch ohne ein Geländer, auf das man sich in Momenten drohenden Gleichgewichtsverlusts kurz stützen könnte.
Letzteres braucht es aber auch gar nicht, denn sowohl Therese Willstedt als auch Norman Hacker gelingt es, einen auf solch nahbare Weise an ihren Gedankengängen teilhaben zu lassen, dass man auch größere Sprünge gern mitmacht. Womit wir auch schon wieder beim Autor und seinem Protagonisten Franz-Josef Murau wären. „Er umkreist die Dinge immer und immer wieder. Gleichzeitig nimmt er einzelne Gedanken heraus, seziert sie und setzt sie anschließend wieder zusammen. Dadurch entsteht eine Distanz zur eigenen Gefühlswelt, ohne die die Auseinandersetzung mit dieser riesengroßen Ladung an traumatischen Erlebnissen vermutlich gar nicht aushaltbar wäre. Ich halte das für brillant“, bringt es Therese Willstedt auf den Punkt.
Auch Norman Hacker ist von Bernhards Sprache begeistert. „Weil wir sehr musikalisch arbeiten, fühlt es sich ein bisschen so an, als wären wir ein Orchester, nur dass wir selbst die Instrumente sind“, hält der Schauspieler fest und fügt lachend hinzu:
„Gleichzeitig hat man immer wieder das Gefühl, plötzlich Zwölftonmusik spielen zu müssen, weil man zwar noch spürt, was Bernhard sagen will, es intellektuell aber nicht mehr ganz durchdringen kann.“

Den Bewusstseinsstrom des Protagonisten hat die Regisseurin auf acht Spieler*innen aufgeteilt. „Therese hat einen sehr feinen Sensor dafür, wie sie uns im Raum platzieren und auf welche Weise sie mit den Klangfarben unserer Stimmen umgehen möchte. Weil das aber immer nur Angebote sind, entsteht eine große Freiheit, die ich sehr schätze“, beschreibt der gebürtige Oberösterreicher die Arbeitsweise der Regisseurin.
Bernhards Werk hat Norman Hacker bislang nur als Beobachter wahrgenommen, dafür gehörte der Dramatiker und Sprachkünstler Werner Schwab zum Freundeskreis des Schauspielers. „Als wir sein Stück ‚Pornogeographie‘ in Graz erarbeitet haben, habe ich ihn nach der Bedeutung einer Passage gefragt und er wollte daraufhin nur wissen, ob sie mir gefällt. Die Frage habe ich mit Ja beantwortet, woraufhin er meinte, dass ich sie mir einfach auf der Zunge zergehen lassen soll, denn er wüsste auch nicht mehr, was er damit eigentlich sagen wollte. Auch bei dieser Arbeit denke ich mir immer wieder, dass ich Bernhard gern nach der Bedeutung des einen oder anderen Satzes fragen würde.“
Wenn es die Komik nicht gäbe, könnte ich diesen Text gar nicht inszenieren.
Therese Willstedt, Regisseurin
Von der Auflösung zur Auslöschung?
Wir sprechen auch über den Titel des Texts und dessen Implikationen. Norman Hacker bringt den Begriff der Abrech-nung ins Spiel und Therese Willstedt hebt hervor, dass es für sie vor allem um das Auflösen von bestimmten Mustern geht.
„Der Text hat mir erneut vor Augen geführt, wie schwer es ist, sich von Glaubenssätzen und Mustern zu lösen, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Obwohl man sie vielleicht hasst und gern loswerden möchte, leben sie in einem weiter, wodurch man wiederum dazu beiträgt, ein System am Leben zu erhalten. Ich habe beispielsweise ein großes Problem damit, in dieser Gesellschaft zu funktionieren, weil die Werte, auf welchen sie fußt, nicht jene sind, nach denen ich leben möchte. Gleichzeitig habe ich aber auch das Bedürfnis dazuzugehören und möchte weiterhin daran glauben, dass diese Werte eines Tages vielleicht von anderen abgelöst werden. Dieses Dilemma, in dem auch Franz-Josef Murau steckt, finde ich extrem spannend.“
Als das Gespräch eine Wendung in Richtung Tradition, Folklore und Nationalstolz nimmt, kommt Norman Hacker ein Zitat Schopenhauers in den Sinn: „Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.“
Die gebürtige Schwedin studierte an der Ballettakademie in Göteborg und Regie in Kopenhagen. Ihre bildstarken Inszenierungen sind in Dänemark, Schweden, Deutschland und Österreich zu sehen.
Eine klare Antwort hat Therese Willstedt im Übrigen auch darauf, ob man bei Thomas Bernhard auch lachen kann. „Auf jeden Fall. Sonst könnte ich dieses Stück gar nicht inszenieren“, schießt es aus der Regisseurin heraus. „Die Menschen in ihrer Absurdität zu zeigen, ist eine kluge Taktik, um mit der Komplexität und dem Schmerz umzugehen.“
„Auslöschung“ ist also auch ein Abend, der die Absurdität menschlichen Daseins in all ihren unterschiedlichen Abstufungen zeigen möchte. Und das ist bei dieser Produktion sowohl buchstäblich als auch metaphorisch zu verstehen.