Der Traum vom Miteinander
Für Sissi Reich geht mit ihrem Wechsel ans Volkstheater ein Traum in Erfüllung. Ihr Kollege Nicolas Frederick Djuren träumt indes von sackerlweise Semmeln. Wir haben mit den beiden Neuzugängen über das Theater, Arthur Schnitzler und Wien gesprochen.
Das große Eröffnungswochenende am Volkstheater ist vorbei und es sieht ganz danach aus, als hätten Jan Philipp Gloger und sein Ensemble die theaterverliebte Stadt bereits in der Tasche. Eingetütet sozusagen. Oder sollte man eher sagen: eingesackelt? Schließlich sind wir ja in Wien. Nicolas Frederick Djuren, der im Sommer von Nürnberg ans Volkstheater wechselte, ist sich der Tatsache längst bewusst, dass es in Wien Sackerl und nicht Tüte heißt. Auch mit dem Wort „Brötchen“ sei er im Supermarkt bereits glorreich gescheitert, wie er lachend erzählt. „Wenn du dir diese beiden Dinge merkst, hast du etwa achtzig Prozent der Kommunikationsschwierigkeiten gelöst“, bestätigt Sissi Reich, die zwar in Graz aufgewachsen ist, aber schon ein paar Jahre mehr Hauptstadterfahrung in der Tasche hat.
In der Tüte. Im Sackerl. Wie auch immer. Darum soll es auch gar nicht gehen, denn eigentlich möchten wir mit den beiden Neuzugängen über ihren Wechsel ans Volkstheater und ihr gemeinsames Stück sprechen. Ab 31. Oktober sind die beiden in Johanna Wehners Inszenierung der „Traumnovelle“ zu sehen.
Eine Sache möchte Nicolas Frederick Djuren aber noch loswerden: „Ich glaube, dass man hier eine gute Zeit hat, wenn man über sich selbst lachen kann und nicht immer alles so ernst nimmt. Das gilt aber nicht nur für Wien, sondern auch für jeden anderen Ort.“
Auf die Stadt zugehen
Das gilt auch für unser Gespräch, das zwei Tage nach ebenjenem Wochenende stattfindet, an dem gefühlt die ganze Stadt ins Theater am Arthur-Schnitzler-Platz strömte. Die beiden wirken fröhlich und gelöst. Die Herzlichkeit, die sie im Umgang miteinander an den Tag legen, lässt darauf schließen, dass die Stimmung in der Truppe gut ist und sich die Betriebstemperatur auf einem konstant hohen Level eingependelt hat. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle total Lust darauf haben, uns besser kennenzulernen und voneinander zu lernen“, bestätigt Sissi Reich diesen Eindruck.
„Ich hatte nach sieben sehr schönen Jahren in Nürnberg große Lust auf neue Herausforderungen. Und wo, wenn nicht in der Theaterstadt Wien?“, bringt Nicolas Frederik Djuren seine Motivation, nach Wien zu wechseln, auf den Punkt. Auch Sissi Reich weiß um die Theaterverliebtheit der Wienerinnen und Wiener: „Natürlich macht das Druck, aber es ist auch total schön, dass so viele Menschen in der Stadt Interesse an unserer Arbeit haben.“

Die Schauspielerin ist vom Schauspielhaus Wien ans Volkstheater gewechselt und damit an ihrem „Traumtheater“ gelandet, wie sie erklärt. Sie freut sich auf die große Bandbreite an Regiehandschriften und die zahlreichen Möglichkeiten, sich in unterschiedlichen Zusammenhängen zur Disposition zu stellen.
Ihr Kollege nickt und fügt hinzu: „Wir möchten auf die Leute zugehen und ein Programm anbieten, bei dem für jede und jeden etwas dabei ist. Es wäre schön, wenn es uns auf diese Art gelingen würde, diesen elitären Touch, den Theater immer noch hat, noch etwas mehr abzubauen.“ Das bedeutet, dass auch wahnwitzig schnelle Komödien, die man ansonsten nur selten auf den Spielplänen von Stadt- und Staatstheatern findet, ihren Platz im Programm haben. In einer solchen wird der gebürtige Bielefelder nämlich ab 17. Oktober zu sehen sein. „Christian Breys Inszenierung der ‚Komödie mit Banküberfall‘ ist unglaublich virtuos und technisch extrem anspruchsvoll“, hält er fest und setzt lachend nach: „Das Schwierige an der Komödie ist auch, dass es natürlich eine Tragödie ist, wenn niemand lacht.“ Passend dazu feuert der Schauspieler sein herzlichstes Lachen ab.
Der gebürtige Bielefelder absolvierte sein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Von 2016 bis 2018 gehörte er zum Studio am Schauspiel Köln, wo er unter anderem mit Armin Petras und Stefan Bachmann arbeitete. Danach wurde er festes Ensemblemitglied am Staatstheater Nürnberg, wo er bis zu seinem Wechsel ans Volkstheater auf der Bühne stand.
Mut und Offenheit
Bevor wir den Bogen vom Traumtheater zur „Traumnovelle“ schlagen, sprechen wir noch darüber, was den Beruf ausmacht und worin die größten Herausforderungen liegen könnten. „Der schwerste Part ist für mich das Aufmachen“, hält Nicolas Frederick Djuren fest. „Man ist immer wieder aufs Neue dazu aufgefordert, sich verletzlich und angreifbar zu machen. Das erfordert sehr viel Mut und Offenheit. Für mich ist das der schwierigste Teil und zugleich auch jener, der am meisten Spaß macht. Dabei spielt natürlich auch das Ensemble eine große Rolle. Je besser man sich kennenlernt, umso größer wird das Vertrauen und umso mehr kann man sich auch gegenseitig fordern.“
„Es ist ein Job, bei dem man sich jeden Tag selbst zur Disposition stellt – mit dem eigenen Körper und der eigenen Stimme. Das ist etwas Schönes, gleichzeitig braucht es dafür sehr viel Mut. Und es ist wichtig, bei sich zu bleiben“, merkt Sissi Reich an. „Und dranzubleiben“, wirft ihr Kollege ein. Denn das Gefühl der Überwindung, so Djuren, wird nie ganz verschwinden. Und gemütlich sollte es am Theater wohl auch nie werden.
Diese Befürchtung muss man bei den beiden, die sich mit ihrer Energie permanent gegenseitig anzustecken scheinen, aber auch nicht haben. Eine Sache möchte Sissi Reich in diesem Zusammenhang aber noch erwähnen: „Ich glaube, dass es wichtig ist, sich eine etwas dickere Haut zuzulegen, aber trotzdem sensibel, verletzlich und angreifbar zu bleiben.“
Oder auch: dickes Fell, ja, bitte! Aber hart und borstig sollte es auf keinen Fall sein, sondern weich und durchlässig. Der Schauspielerin hilft es auch, Dinge abseits des Theaters zu haben, die ihr Erfüllung bringen. „Bei mir ist das gerade der Gesang. Das ist wie Wellness für mich.“

Mit Schnitzler durch Wien
Musikalisch wird auch Johanna Wehners Inszenierung der „Traumnovelle“. Gemeinsam mit den vier Spieler*innen werden auch zwei Livemusiker*innen auf der Bühne stehen. „Wir wünschten uns für diese Gestalten, die sich durch diesen inneren und äußeren Dschungel schlagen, so eine Art innere Melodie, die nicht in einer klar gedachten und sprachlich gefassten Erkenntniswelt liegt“, erläutert die Regisseurin.
In die erste Probenphase, die bereits vor den Theaterferien stattfand, seien sie mit dem Motto „Mitternachtsspaziergang mit Minderwertigkeitskomplexen“ hineingestartet, erzählt Nicolas Frederick Djuren, der in Nürnberg schon mit Johanna Wehner zusammengearbeitet hat. „Es geht um ein Ehepaar, das nach einem Ball über Gelüste und Fantasien spricht. Als Albertine ihrem Ehemann Fridolin erzählt, dass sie sich vor längerer Zeit von einem anderen Mann angezogen fühlte, stellt er alles infrage – seinen Beruf, seine Freunde, sein ganzes Leben. Daraufhin bricht er in ein albtraumhaftes Abenteuer auf. In gewisser Weise geht es also auch um fragile Maskulinität“, so Djuren.
sammelte schon früh erste Theatererfahrungen am Schauspielhaus Graz. Sie studierte Kunstgeschichte und Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und ab 2020 Schauspiel an der Zürcher Hochschule der Künste. Während des Studiums gastierte sie unter anderem am Theater Konstanz und am Theater und Orchester Heidelberg. Vor ihrem Wechsel ans Volkstheater war sie am Schauspielhaus Wien engagiert.
Sissi Reich pflichtet ihrem Kollegen bei, ergänzt jedoch, dass sich nicht nur Männer in solchen Situationen wiederfinden. „Außerdem kann aus diesen Momenten, in denen man innehält und alles plötzlich hinterfragt, auch viel Neues entstehen“, hält sie auf eine Weise fest, die durchschimmern lässt, dass auch ihr dieser Zustand nicht ganz fremd ist.
Beim Lesen des Texts von Arthur Schnitzler hat sie sofort eine starke Sogwirkung gespürt. „Ich wurde augenblicklich in diese schlafwandlerische, mystische Welt hineingezogen“, beschreibt sie ihre erste Leseerfahrung. Nicolas Frederick Djuren nahm den Text zum Anlass, sich auf die Spuren der Hauptfigur zu begeben. „Ich habe mir all die Orte, die in der Novelle vorkommen, herausgesucht und bin dann durch Wien spaziert.“
Ich habe mir alle Orte, die in der Novelle vorkommen, herausgesucht und mich auf einen Spaziergang durch Wien begeben.
Nicolas Frederick Djuren, Schauspieler
Aus der Bahn geworfen
Für Johanna Wehner gab es insbesondere eine Textstelle, die sie sehr lange und intensiv beschäftigte: „Fridolin, die Hauptfigur, begegnet bei einem Krankenbesuch zum ersten Mal dem Verlobten der Tochter seines eben verstorbenen Pa- tienten. Dieser Verlobte wird Professor, er wurde gerade auf einen gesellschaftswissenschaftlichen Lehrstuhl berufen. Und auf einmal, so mehr oder weniger wörtlich, fühlt sich Fridolin diesem Menschen, den er zuvor noch nie gesehen hat und der in seinem Leben – oder Berufsfach – keinerlei Bedeutung hat, unterlegen.“
Der Abend hängt zwar nicht an dieser Stelle, wie Wehner betont, dennoch zeigt sich darin für die Regisseurin ein Grundthema des Texts: „Wie steht der Mensch in der Welt, woraus entnimmt er das Ge- fühl von Identität oder eines geglückten Lebens? Wodurch gerät dieses Gefühl aus der Bahn und welche Schlüsse zieht der Mensch daraus? Inwieweit ist er fähig, sich mit sich selbst und einst getroffenen Entscheidungen auseinanderzusetzen? Sich weiterzuentwickeln? Oder wem schiebt er die Verantwortung zu? Was folgt daraus für die Beziehungen, die er eingeht? Was folgt daraus für die Werte, auf die er zu bauen schien?“
Die 1925 veröffentlichte Novelle zeichne sich zudem durch ihren genauen Blick auf die Neurosen unseres Menschseins aus – wie auch auf ihre „fatalen Folgen für unser Miteinander – im Kleinen, aber in weiterer Folge natürlich auch im Großen.“ Zurück zu Sissi Reich und Nicolas Frederick Djuren – also zu jenen beiden Menschen, die gerade erleben, was es bedeutet, wenn ein neues Miteinander entsteht. Passend dazu geht es am Ende unseres Gesprächs darum, dass das Theater wie kaum eine andere Kunstform Gemeinschaft und Zusammenhalt stiften kann. Wir verabschieden uns. „Baba“, sagt Nicolas Frederick Djuren und hat spätestens jetzt ganz Wien „eingesackelt“.
Es ist ein Job, bei dem man sich jeden Tag selbst zur Disposition stellt. Das erfordert sehr viel Mut.
Sissi Reich, Schauspielerin