Deshalb fällt es Frauen schwer loszulassen
An alles denken, organisieren, machen, vorbereiten, zuhören, da sein, das große Ganze im Blick und alle Fäden in der Hand haben, leisten, Dinge kommunizieren, managen, sich kümmern . . . Klingt schon beim Lesen stressig, oder? Ist es auch. Und es ist der ganz normale Alltag von vielen Frauen. Da sind viel Druck und wenig Leichtigkeit, viele To-dos und ein Hut, der schlicht oft zu klein ist.
Laut dem aktuellen Global Gender Gap Report 2024 braucht es noch 134 Jahre, bis Gleichstellung zwischen den Geschlechtern hergestellt ist. Es verwundert also wenig, dass Frauen in unterschiedlichen Umfragen angeben, gestresster zu sein als Männer. Vor allem das Alltagsmanagement und die sogenannte Care-Arbeit sind nach wie vor ungleich verteilt, bestätigt Leadership-Coachin Tanja Reiter-Narrenhofer, die sich auf Frauenthemen spezialisiert hat. Darauf zu warten, dass sich die Rahmenbedingungen morgen ändern, scheidet als Taktik also eher aus. Aber wie kommt dann mehr Leichtigkeit in den Alltag? »Als Erstes würde ich empfehlen, der eigenen inneren Kritikerin auf die Spur zu kommen«, sagt Reiter-Narrenhofer. »Frauen sind meiner Erfahrung nach viel kritischer mit sich als Männer und das erzeugt viel Druck, der nicht nötig ist.«
DIE INNERE KRITIKERIN LOSLASSEN, DIE INNERE ERLAUBERIN EINLADEN
Ihre Empfehlung: »Erforschen Sie diese Kritikerin, achten Sie darauf, wann sie auftaucht und was sie will, um gegensteuern zu können. Das kann auch bedeuten, ihr eine innere Erlauberin gegenüberzustellen, die großzügiger und flexibler ist und die Sie immer wieder daran erinnert, dass nichts Schlimmes passiert, wenn man mal zehn Minuten zu spät dran ist oder die Geburtstagstorte kauft, statt sie zu backen.« Die Strenge loszulassen, bedeutet auch, Ansprüche und Regeln loszulassen. »Die Regeln stellen wir meistens selbst auf, daher haben wir da auch Handlungsspielraum, den wir nutzen sollten«, erklärt die Female-Empowerment-Expertin. »Und zwar im Kleinen, jeden Tag. Es hilft wenig, einmal im Jahr auf ein Yoga-Retreat zu fahren, dort entspannt zu sein, aber im täglichen Leben ausschließlich Druck und Stress zu empfinden.« Und es gibt da noch etwas, was es aus ihrer Sicht gilt loszulassen: nämlich das Bestreben, es so gut machen zu wollen wie die anderen. »Auch diese Vergleiche erzeugen Druck. Aber niemand weiß, wie es hinter den Fassaden ausschaut«, sagt Reiter-Narrenhofer und empfiehlt das ehrliche Gespräche mit engen Kontakten, um gemeinsam ein realistischeres Bild vom Alltag anderer zu bekommen.
DIE SCHATTENSEITEN VON EINFÜHLUNGSVERMÖGEN
Empathische, offene Gespräche dieser Art sind gut und das weibliche Einfühlungsvermögen wird laut einigen Studien über die Vorteile weiblicher Führungskräfte auch im beruflichen Kontext immer mehr wertgeschätzt. Wenn es allerdings um Leichtigkeit im Alltag geht, muss an dieser Stelle auch über die Kehrseite dieser Emotionsmedaille geredet werden. Gefühle anderer stärker wahrzunehmen, sich besser in sie hineinversetzen zu können oder etwa Emotionen intensiver zu spüren und zu zeigen, kann auch schwierig sein, bestätigt Reiter-Narrenhofer: »Wenn ich mehr mitbekomme, kann das natürlich dazu führen, dass ich mir Dinge stärker zu Herzen nehme und es mir schwerer fällt, mich abzugrenzen.« Deshalb kann es spannend sein, sich mit einem Begriff auseinanderzusetzen, den der spanische Psychiater Jose Luis de Rivera geprägt hat, nämlich der »Ekpathie«. Sie ist das Gegenstück zur Empathie und soll dabei helfen, sie ein Stück weit auszugleichen, um sich selbst zu schützen, wenn notwendig. Sie hat nichts mit Gefühlskälte zu tun, sondern meint, wahrgenommene Gefühle anderer aktiv auszublenden (und sich das zu erlauben!), um sich von emotionalen Impulsen nicht überwältigen zu lassen und empathischen Stress zu reduzieren. Die gute Nachricht ist: All das kann frau sich aneignen. Die weniger gemütliche: All das braucht ein bisschen Übung, Geduld und Aufmerksamkeit. Deshalb noch ein weiterer Tipp von Tanja Reiter-Narrenhofer: »Die Kunst liegt bei solchen Dingen ganz klar im Alltag. Deshalb ist es zum Beispiel wirkungsvoll, sich einen kurzen Reminder auf den Badezimmerspiegel zu schreiben. Das kann ein Satz sein wie ›Gut ist gut genug‹ oder ein Wort wie ›Leichtigkeit‹. Das wirkt zunächst zwar unspektakulär, kann aber entscheidend dazu beitragen, in die Umsetzung zu kommen.« Und wenn sie gelingt, kann es sein, dass irgendwann aus dem Baba-Sagen zu einzelnen Dingen, Regeln, Gewohnheiten oder inneren Stimmen, die einen getrieben hatten, ein wirkliches Lossagen von unliebsamem Stress wird. Und zwar früher als in 134 Jahren.