Kaum eine Produktion macht in dieser Saison Opernfans so neugierig: In der Wiener Kammeroper des Theater an der Wien feiert das „Tristan-Projekt" unter der Regie von Opernstar Günther Groissböck Premiere. Es ist eine gekürzte Fassung von Richard Wagners „Tristan und Isolde". Die Spieldauer wurde um fast die Hälfte reduziert: Der erste und zweite Akt dauern circa 95 Minuten und der zweite Akt dann noch einmal eine gute Stunde. Der musikalische Leiter Hartmut Keil erklärt der BÜHNE im Interview, wie Logik, Dramaturgie und Klangfarbe dennoch erhalten bleiben – und warum sich diese Fassung gut für „Wagner-Anfänger:innen" eignet.

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BÜHNE: Richard Wagners „Tristan und Isolde“ gekürzt und im kleinen Ambiente der Kammeroper: Was erwartet das Publikum?

Hartmut Keil: Wir haben sowohl hinsichtlich der zeitlichen Ausdehnung eingegriffen und gekürzt als auch die Orchesterbesetzung reduziert. Regisseur Günther Groissböck hatte den Wunsch, dass das Stück ein Kammerspiel ist und wir das Seelenleben der beiden Hauptfiguren herausarbeiten. Daher wurden die ganz kleinen Rollen – wie zum Beispiel den Hirt im dritten Akt oder der Seemann im ersten Akt – weggelassen. Und wir haben auch den Herrenchor am Ende des ersten Aktes gestrichen. Das dient auch der Konzentration auf die Hauptfiguren.

BÜHNE: Die Spieldauer wurde drastisch reduziert. Wo gibt es die inhaltlichen Kürzungen und wie erhält man dennoch die Logik aufrecht?

Keil: Ich wollte lieber einen großen Sprung machen, als hier vier Takte und dort vier Takte zu streichen. Dadurch können wir andere Stellen original durchlaufen lassen. Damit bewahren wir auch die Proportionen von Wagner. Der Anschluss vom Text muss natürlich passen, damit man alle wichtigen Informationen zum Verständnis der Geschichte hat.

Konzentration auf die Charaktere

BÜHNE: Gab es bei den Kürzungen ein Feilschen um Lieblingsstellen?

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Keil: Ich bin der Meinung, dass man bei so einer neuen Fassung davon wegkommen muss, immer zu überprüfen, was im Vergleich zum Original fehlt. Es muss eine eigene Dramaturgie geben. Der springende Punkt war, dass ich den ersten und zweiten Akt ineinander übergehen habe lassen. Es gibt einen großen Sprung von jener Stelle im ersten Akt, an der Tristan und Isolde den Liebestrank zu sich nehmen, direkt in das große Duett vom zweiten Akt. Im dritten Akt fehlen dann vielleicht nur noch zehn Minuten.

BÜHNE: Ist nun im Endeffekt ein Stück herausgekommen, dass sich besser oder schlechter für Zuhörer:innen eignet, die noch nie mit Wagner in Berührung gekommen sind?

Keil: Ich glaube, es ist vielleicht sogar einfacher. Zum einen kann man sich besser auf die Charaktere konzentrieren, da man nicht so von den opernhaften Elementen wie dem Chor oder Nebenfiguren abgelenkt wird. Zum anderen stehen in der Inszenierung Menschen „von heute" auf der Bühne, die eine Art Menschenversuch durchführen. Und was ich auch glaube: Das Publikum ist durch den Raum und die Akustik in der Kammeroper näher dran und wird auch den Text besser verstehen.

BÜHNE: Was hat sich bei der Orchester-Besetzung verändert?

Keil: Ich finde, es ist eine sehr schwierige Aufgabe, die Instrumentierung auf 22 Musiker zu reduzieren. Wir haben eine ganz neue und eigenständige Kammerorchesterfassung, nur für unsere Inszenierung und dieses Haus. Das ist ein Luxus. Wir haben eine schöne Mischung: Zum einen das transparente und durchsichtige Kammerorchester, das ein besseres Textverständnis ermöglicht. Zum anderen haben wir aber immer wieder ein schönes Orchester-Tutti-Gefühl. Denn ich glaube, wenn das Orchester zu klein ist, würde man zu viel vom Farbreichtum des Wagner-Originals verlieren.

BÜHNE: Gibt es auch neue Instrumente in der Kammeroper-Fassung?

Keil: Als einziges nicht Original-Instrument ist ein Akkordeon dabei. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Denn es ist sehr vielseitig: Es kann ein fehlendes Holzblasinstrument ersetzen, mischt sich gut mit Klarinetten und Flöten, aber auch die bei Wagner häufig vorkommenden Streichertremoli stützen.

BÜHNE: Tristan und Isolde im intimen Ambiente der Kammeroper, statt auf einer großen Bühne einer Staatsoper. Kristiane Kaiser und Norbert Ernst schlüpfen in die Titelrollen. Wie wirkt sich das auf ihre Arbeit aus?

Keil: Jemand wie Günther Groissböck, der normalerweise auf einer Bühne wie der Wiener Staatsoper oder der Met singt, muss sich natürlich etwas zurücknehmen, da sonst das Haus einstürzen würde. Norbert Ernst und Kristiane Kaiser singen ihre Parts zum ersten Mal, daher haben sie jetzt nicht so den Vergleich. Aber es gibt auch die großen Tutti-Momente. Denn der Tristan ist ja auch ein Stück über rauschhafte Zustände. Ich glaube, das ist uns in diesem Rahmen gut gelungen.

Für die Wiener Staatsoper wären die Stimmen vielleicht überraschend lyrisch. Aber ich finde, das ist gerade unser großer Vorteil, dass wir Stimmen haben, die nicht so schwer sind. Die Stimmen müssen in unserer Fassung nicht die ganze Zeit einen Kampf gegen ein großes Orchester austragen. Hier gibt es die Möglichkeit, ganz viele Farben zu zeigen und den Text noch einmal ganz anders zu transportieren. Ich denke, das ist ein großer Vorteil für das Haus und das Publikum.

Hartmut Keil ist der musikalische Leiter des Tristan-Experiments an der Wiener Kammeroper.

Foto: Barbara Aumüller

Zur Person: Hartmut Keil

Hartmut Keil begann an der Oper Frankfurt, wo er sich ein breites Repertoire erarbeiten konnte. Er wechselte als Erster Kapellmeister nach Bremen, wo er u.a. mit Dvořáks „Rusalka“, Strawinskys „The Rake’s Progress“ und Wagners „Der fliegende Holländer“ erfolgreich war. Für die musikalische Leitung von Bergs „Lulu“ in Bremen wurde er 2019 von der Opernwelt als „Dirigent des Jahres“ nominiert. Bei den Bregenzer Festspielen dirigierte er Mozarts „Zauberflöte“, im dortigen Landestheater dessen „Da Ponte“-Opern. Bei den Bayreuther Festspielen ist Hartmut Keil musikalischer Assistent & Studienleiter und verantwortet dort die für Kinder erstellten Fassungen. Es ist sein Debüt an der Kammeroper.

Termine und Tickets: Das Tristan Experiment

Wiener Kammeroper

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