Bonn ist eine liebens- und lebenswerte Stadt am Rhein. Die Mehrzahl der Bewohnerinnen und Bewohner sind, wenig überraschend, Rheinländerinnen und Rheinländer, sie nähren sich von rheinländischer Küche (die zur Blutwurst gerne picksüßes Apfelmus reicht) und verfügen über rheinländischen Humor, der sich einmal im Jahr mehrere Wochen hindurch im Karneval Bahn bricht. Humor brauchte man hier auch, um zwei herbe Verluste zu verschmerzen: Vor zwanzig Jahren übersiedelte ein Großteil der deutschen Regierung nach Berlin. Bonn wurde sozusagen enthauptet: Nicht mehr Bundeshauptstadt, sondern „Bundesstadt“ nennt es sich seitdem.

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Die andere Übersiedlung liegt schon länger zurück. Im Herbst 1792 verließ der einundzwanzigjährige Nachwuchsmusiker Ludwig van Beethoven seine Geburtsstadt, um – wie er dachte – ein oder zwei Jahre in Wien zu studieren. Die Donaumetropole wurde seine zweite Heimat, wo er im März 1827 verstarb. Was übrigens nichts anderes bedeutet, als dass wir in sieben Jahren noch eine Chance auf ein Beethoven-Jahr bekommen; 2020 stellt Lady C. den Meister B. ja mitleidlos in den Schatten.

Von Bonn nach Wien

Habe ich schon erwähnt, dass der Rhein überwältigend ist? Sein Anblick bewegend? Er fließt in seiner ganzen Breite mitten durch Bonn, wird nicht in den Außenbezirken versteckt wie die Wiener Donau. Der Blick auf den Rhein und hinüber ins Siebengebirge hat den Jüngling geprägt, dieses Gefühl von Freiheit und Weite fehlte ihm in Wien. Deshalb klagte er, als composer in residence wohnhaft im Theater an der Wien, dass er nur in einen Hinterhof blicke; deshalb ließ er, als Gast des Freiherrn Pasqualati im gleichnamigen Haus auf der Mölker Bastei, ein Fenster ausbrechen – ohne den Hausherrn davon zu verständigen. So war Beethoven halt …

In der Rheingasse zu Bonn stand einst das Haus, in dem der kleine Ludwig im Alter von sechs bis fünfzehn gewohnt hatte. An die Stelle des historischen Gebäudes ist ein nicht rasend attraktiver Neubau mit stagelgrüner Front gerückt. Davor aber steht eine originelle Skulptur, geschaffen von der japanischen Künstlerin Yukako Ando: Über einem Kindersesselchen ragt hoch ein Schreibpult auf; ganz oben ein Fenster, auf dem ein kleiner Vogel sitzt und Beethovens Blick über den Rhein in die Weite tut.

Sogar Thomas Mann, persönlich auch nicht gerade ein Bajazzo, schrieb von der Fürchterlichkeit des Menschen Beethoven.

War der Musikhumanist Beethoven tatsächlich der zwidere Grantscherben (in Bonn nennt man das „Griesgram“), als der er in die Geschichte eingegangen ist? Sogar Thomas Mann, persönlich auch nicht gerade ein Bajazzo, schrieb von der „Fürchterlichkeit des Menschen Beethoven“. Aber Ludwig van verfügte sehr wohl über einen gepflegten rhein­ländischen Humor, der ihm mit den Jahren allerdings gemeinsam mit seiner Hörfähigkeit ­abhanden kam. Ein Bonn-Memory, das ich beim Friseur Hagemann unweit der Oper Bonn erwarb, gießt die Tragödie in beispiellos empathische Worte: „Er wurde im Alter von 44 Jahren taub, was ihm persönlich große Schwierigkeiten bereitete.“

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Die Lebendmaske, abgenommen im Jahr 1812, hat die Darstellung des mürrischen Titanen für alle Zeiten fest­gegipst. Aber wie würden Sie dreinschauen, wenn Sie über eine Stunde nur durch zwei kleine Strohhalme in der Nase atmen dürften?

Er hat musikalische Fenster aufgerissen, durch die wir für alle Zeit in unermessliche Weiten hören können."

Noch ein Musiktipp: Hören Sie seine letzte Klaviersonate (Opus 111), die zwar „nur“ zweisätzig ist, deren zweiter, ein ausufernder Variationensatz, es aber in sich hat. Strawinsky meinte in dem zukunftsweisenden Werk sogar Vorahnungen auf den Boogie-Woogie zu erkennen.

Gewidmet ist Opus 111 jener Frau, die vielleicht seine „unsterbliche Geliebte“ war, Antonie „Toni“ Brentano – ihr Mädchenname war Birkenstock, aber das soll Sie nicht in die Irre führen. Unsterblich war sie jedenfalls nicht, doch wurde sie immerhin fast neunzig und überlebte ihren Anbeter Beethoven um 42 Jahre.

Wer soll spielen? Glenn Gould stöhnt so schön mit, Friedrich Gulda jazzt mit merkbarer Wonne, Alfred Brendel spielt vielleicht am entrücktesten. Er hat auch Spannendes über das Stück geschrieben: Es wirke „als abschließendes Bekenntnis seiner Sonaten und als ein Präludium des Verstummens“.

Fürchterlichkeit, unerfüllte Liebe, Ertauben, Verstummen … haben wir kein positiveres Schlusswort zu Ludwig van Beethoven? O doch: Er hat musikalische Fenster aufgerissen, durch die wir für alle Zeit in unermessliche Weiten hören können. Und wer klug ist, feiert immer wieder mal ein bisschen Beethoven-Jahr.

Christoph Wagner-Trenkwitz
Zur Person: Christoph Wagner-Trenkwitz ist Dramaturg, Musikwissenschafter, Buchautor und legendärer Opernball-Kommentator. Er war Intendant in Haag und ist seit 2009 Chefdramaturg an der Volksoper in Wien. Für die Bühne schreibt er monatlich eine Kolumne.

Foto: Peter Strobl