Kirill Serebrennikov: Die Idee der Freiheit
Es ist die wohl umstrittenste Opern-Inszenierung des Jahres: Wagners „Parsifal“ unter der Regie von Kirill Serebrennikov. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“, haben wir den russischen Regimekritiker gefragt. Hier seine Antwort.
Am Ende seiner Laufbahn unternimmt Wagner in einem „Bühnenweihfestspiel“ einen Rückblick auf sein gesamtes künstlerisches Schaffen: Amfortas ist der „gesteigerte Tristan“, in Parsifal ist Wagners Siegfried-Gestalt im doppelten Wortsinne aufgehoben, Kundry ist eine Reinkarnation von Erda, Brünnhilde und Venus zugleich, in Klingsor sind Züge von Alberich und Wotan, Hagen und Beckmesser vereint. Wagner beschwört die musikalische Aura dieser Gestalten und führt sie einer letzten Verfeinerung und Sublimierung zu.
Diese sehr besondere Oper, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, lädt ein, über unser Leben nachzudenken. Ich bin Buddhist und glaube an etwas Absolutes. Das Absolute ist aber nicht immer – oder vielleicht richtiger: fast nie – dort zu finden, wo die Leute es annehmen und vermuten, und schon gar nicht in theologischen Argumenten und Disputen. Diese führen immer wieder nur zur Errichtung von Scheiterhaufen – und in gewisser Weise haben auch Wagners religionsphilosophische Theorien zumindest als Brandbeschleuniger für andere Scheiterhaufen gewirkt.
Verdrängtes entdecken
Es ist Wagners kompositorische und dramaturgische Erinnerungsperspektive im „Parsifal“, aus der ich meine szenische Konzeption entwickelt habe. Ein erwachsener Mann meines Alters erinnert sich an den jungen Mann, fast noch den Burschen, der er einmal war. Wagners Theatermusik soll nicht „vom Himmel herabströmen“, sondern aus der inneren Bewegung des Protagonisten hervorgehen und im Kontext einer szenischen Versuchsanordnung stehen. Bereits das Vorspiel entfaltet sich als innere Musik Parsifals. Die ersten beiden Akte der Oper zeige ich im erinnernden Rückspiegel dieser Person. Parsifal wird von seinen Erinnerungen eingeholt oder übermannt, manchmal verirrt er sich in ihnen. Er entdeckt Verdrängtes.
Er versucht, seine Erinnerung zu steuern und – wie jeder von uns – mit Schmerz und Scham verbundene Erfahrungen zu beschönigen. Und wir alle kennen Momente unseres Lebens, in denen wir uns nachträglich gern ganz anders verhalten hätten, als wir es getan haben. Nach der zeitlichen Kluft, die das Geschehen der ersten beiden Akte von dem des 3. Akts trennt, sind wir in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit unseres Erzählers angelangt. In allen drei Akten kommt es zu einer in meinem Verständnis sakralen oder auch mystischen Begegnung zwischen dem damaligen und dem heutigen Parsifal. Beide stehen Auge in Auge dem anderen, fremd gewordenen oder plötzlich wieder ganz nah rückenden Ich gegenüber, das sie einmal waren oder das sie einmal sein werden.
Ein poetischer Erinnerungsraum
Wichtig ist mir, zu betonen, dass ich einen poetischen Erinnerungsraum geschaffen habe, in dem es – genau wie in unserer Erinnerung auch – Widersprüche geben kann und in dem sich verschiedene Ebenen überlagern oder wie in einer Überblendung ablösen können. Und natürlich weist jede Erinnerung Lücken und Leerstellen auf. Die Grenze von Erlebtem und Fantasiertem bleibt fließend – bei aller kinematografischen Konkretheit, mit der meine Aufführung arbeitet.
Parsifals Erinnerung setzt da ein, als er noch neu im Knast ist und einen Mithäftling mit unfassbarer Brutalität ermordet. Wagner selbst lässt Gurnemanz die Tötung des Schwans durch Parsifal als „Mord“ bezeichnen. Auch im Original hat der Schwan Parsifal nichts getan. Vermutlich hat er ihn aus purer Lust abgeschossen: „Im Fluge treff ich, was fliegt!“, prahlt er. In jedem Fall steigt Parsifal mit dem Mord an einem unschuldigen Wesen, dessen Blut er mutwillig vergießt, in das Stück ein. Dem toten Schwan zu Beginn des Stückes entspricht die schwebende Taube, die an seinem Ende erscheint. Bei uns schlägt an dieser Stelle der tote Schwan seine Augen auf und scheint lächelnd ins Leben zurückzukehren – ein großes Zeichen der Hoffnung.

Der Gral als Idee der Freiheit
Die Gralsritter, so wie Wagner sie bereits zu Beginn des Stückes darstellt, haben offenbar einen Teil ihres Glaubens verloren, vermutlich sogar dessen wichtigsten und entscheidendsten Teil. Der Gral, so wie ich ihn verstehe, ist die Idee der Freiheit ganz allgemein – und genau deswegen ist er in Widerspruch zur Bruderschaft der Gralsgemeinschaft geraten: Die Ritter sind gefangen in ihrer dogmatischen Kampfstellung gegen alles Weltliche. Sie sind mit Scheuklappen unterwegs in der Welt, von der sie eine zunehmend verzerrte und verengte Wahrnehmung haben. Der Gefängnisraum meiner Inszenierung ist eine Metapher für die bornierte, zusammengeschrumpfte, dogmatische Welt, in die sie sich selbst eingesperrt haben und in der alles anders passiert, als es passieren sollte. Und natürlich: Ein Leben in Gefangenschaft ist eine der möglichen Lesarten, die meine Inszenierung für den Satz „Zum Raum wird hier die Zeit“ anbietet.