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(c) Paul Sebesta

Wenn aus Essensresten Baumaterialien werden

Nachhaltigkeit
Bauwirtschaft

Mit Essen spielt man nicht. Mit Essensresten schon. Wie? Das Format »Urban Food & Design« zeigt es und präsentiert ein Pop-up-Café, gebaut aus Mehl, Bier und Reis.

Titelbild: Links auf der Palette befinden sich Paneele aus Reishülsen von ÖsterReis und Mehllurch von Ströck, rechts Ziegeln aus Carbokalk von Agrana, Trebersaft von Ottakringer und Holzwolle aus Stroh. Die Paneele und Ziegel kommen beim Aufbau des Pop-up-Cafés in der Festivalzentrale zum Einsatz.

Kann eine Stadt sich selbst versorgen? Diese Frage steht seit Jahren im Zentrum der Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaftsagentur Wien und der VIENNA DESIGN WEEK. Das Format »Urban Food & Design« bietet seit sechs Jahren eine inspirierende Plattform, um Antworten auf diese drängende Frage zu finden. Auch im Jahr 2024 werden erneut mit Unterstützung der Wiener Kreativszene innovative Ansätze erforscht, die gastronomische Erlebnisse auf eine völlig neue Ebene heben – weit über das herkömmliche Verständnis von Essen hinaus. Dabei geht es nicht nur um die Gestaltung von Mahlzeiten, sondern um die grundlegende Frage, wie die Lebensmittelversorgung in Städten und für Städte zirkulär und nachhaltig organisiert werden kann. Wie können Städte zu lebenswerten, zukunftsfähigen Orten werden, die ökologische und soziale Verantwortung übernehmen?

Gemeinsam den Rest geben

Für diese Herausforderung braucht es kreative Köpfe mit visionärem Denken! Über einen Open Call suchten die Wirtschaftsagentur Wien und die VIENNA DESIGN WEEK nach bahnbrechenden Lösungen für den Hospitality-Bereich der diesjährigen Festivalzentrale. Hier konnte das Studio dreiSt. in allen Belangen überzeugen. Das Trio, bestehend aus Martin Kohlbauer, Luisa Zwetkow und Sophie Coqui, beeindruckte mit einem Konzept, das direkt an die Ergebnisse der Biofabrique Vienna anknüpft. Diese innovative Initiative wurde im Rahmen der Klima Biennale Wien ins Leben gerufen und ermöglichte es Studierenden der TU Wien, über einen Zeitraum von 100 Tagen hinweg neue Baustoffe zu entwickeln – und zwar ausschließlich aus Materialien, die sonst ungenutzt bleiben. Zu diesen zählen beispielsweise Ziegel, die aus Bauschutt, Mehllurch oder Rückständen vom Bierbrauen hergestellt werden. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser intensiven Forschungs- und Entwicklungsarbeit sind Reishülsen, die zu nachhaltigen Oberflächenmaterialien weiterverarbeitet werden. Dieser Reststoff fällt in großen Mengen als Nebenprodukt bei der heimischen Reisproduktion an und wird üblicherweise entsorgt oder verbrannt. Und ja – auch in Österreich wird Reis angebaut! Die kreative Wiederverwendung solcher oft übersehener Materialien ist ein wesentlicher Schritt hin zu einer zukunftsfähigen und ressourcenschonenden Gesellschaft.

Ziegeln aus Myzelium, bestehend aus Pilzsporen und Reststoffen aus Färbereien sowie Secondhand-Kleidung.

(c) Paul Sebesta

Myzelium ist biologisch abbaubar, leicht formbar und durch seine faserige Struktur stabil und isolierend.

(c) Paul Sebesta

Lokal Trifft Global

Die Arbeit der Biofabrique Vienna basiert zudem auf den Erkenntnissen der französischen Forschungsplattform Atelier LUMA aus Arles, die sich auf die Entwicklung bioregionaler Materialien und nachhaltiger Designstrategien spezialisiert hat. Diese Plattform war ein bedeutender Ideengeber: Sie erprobt erstmals das Konzept des bioregionalen Designs im urbanen Raum. Es zeigt sich erneut: Internationale Zusammenarbeit kann lokale Innovationen auf ein neues Niveau heben und sie gleichzeitig in größere Netzwerke integrieren. Oder, um Jan Boelen, den Leiter des Atelier LUMA, zu zitieren: »Materialien sind schwer und sollten vor Ort bleiben. Ideen sind leicht und solten auf Reisen gehen.«

Wie schaut’s aus?

Eine weitere entscheidende Partnerin in diesem Projekt war – wie bereits erwähnt – die Technische Universität Wien. Studierende und Forscher:innen der Uni waren maßgeblich an der Entwicklung der neuen Materialien beteiligt. Ohne deren Forschungsgeist wäre es unmöglich, diese bei der VIENNA DESIGN WEEK zu präsentieren – und zwar nicht irgendwie, sondern als funktionale Bestandteile des beliebten Pop-up-Cafés in der Festivalzentrale. Sie unterziehen sich somit auch gleich einem ersten Belastungstest in der Praxis. Das von Studio dreiSt. gestaltete Café ist dabei mehr als nur ein Ort zum Verweilen, an dem Besucher:innen die Möglichkeit haben, Speisen und Getränke zu genießen. Vielmehr werden einem nämlich, so unmittelbar wie subtil, gleich auch die wichtigsten Diskursinhalte zu den Themen Kreislaufwirtschaft und Materialinnovation serviert. Eine der Botschaften: Nachhaltigkeit und Ästhetik können Hand in Hand gehen. Also: Man sieht sich dort – in einem Café, das Zukunft und Genuss miteinander verbindet!

INFO: Die Highlights des Formats »Urban Food & Design« sowie das Pop-up-Café von studio dreiSt., sind in  Festivalzentrale zu sehen: Landstraßer Gürtel 51, 1030 Wien; 20.–29. 9., 11–20 Uhr.
  

Die Möbel entstehen aus dem ausgehobenen Lehm des Baus der U-Bahnlinie U5 der Wiener Linien.

(c) Paul Sebesta

Der Terrazzo unten besteht aus Holzresten und Weißzement.

(c) Paul Sebesta

Erschienen in
LIVING VIENNA DESIGN WEEK SPECIAL 2024

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Manfred Gram
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