Historische Fliesen: Schönes auf den Boden bringen
In Wiens Zinshäusern liegen wahre Kunstwerke verborgen: historische Fliesen, die Geschichten vergangener Zeiten erzählen. Heute werden sie als wertvolle alte Baustoffe wiederentdeckt und finden auch dank behutsamer Reproduktion ihren Platz in modernen Bauten.
Beim Betreten eines traditionellen Wiener Zinshauses fällt der Blick unweigerlich auf den Boden: kunstvolle Muster, leuchtende Farben und eine Haptik, die von vergangener Handwerkskunst zeugt. Diese historischen Fliesen, meist aus der Gründerzeit und Jugendstilepoche, sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern Zeugen einer Zeit, in der Details und Qualität im Bauwesen höchste Priorität hatten. Das Material, aus dem die Traummuster einstiger Baumeister, Künstler, Designer und Architekten gemacht sind, ist Feinsteinzeug. Es erfüllt alle Anforderungen an einen Boden, der viel belastet wird: Langlebigkeit, Rutschbeständigkeit und leichte Reinigung.
So unterschiedlich die Farben und Formen anmuten, so typisch sind sie im Auge des professionellen Betrachters. »17 mal 17 Zentimeter ist das Maß der Dinge, besser gesagt der klassischen Fliese in Wien«, erklärt Philipp Schleidt. »In Paris etwa sind solche Bodenfliesen deutlich größer.« Der Hochbauingenieur und Experte für alte Baustoffe hat seine Passion zum Beruf gemacht und sich als einer der wenigen in Österreich auf historische Fliesen spezialisiert. Heute handelt er nicht nur mit altem Originalmaterial, sondern erzeugt auch hochwertige Reproduktionen. Schleidt ist der Mann, der von Bauunternehmen gerufen wird, wenn ein Zinshaus in der Stadt abgerissen, generalsaniert oder renoviert wird und entweder alte Bodenfliesen zu entsorgen sind oder fehlende benötigt werden. »Ich lebe sozusagen in meiner eigenen K.-u.-k.-Welt«, sagt er. »Zu meiner Kundschaft gehören sowohl Hausverwaltungen, Villeneigentümer und Adelshäuser als auch einfache Bürger, die in ihrem Zuhause einen besonderen Fliesenboden realisieren wollen.«

Bodenständig wertvoll. Ob durch sorgfältige Wiederverwendung oder detailgetreue Reproduktion – die Wiener Zinshausfliesen bleiben ein Zeugnis für die Schönheit und Beständigkeit handwerklicher Traditionen.
© Philipp Schleidt
Know-how mit Leidenschaft. Philipp Schleidt, der Experte für historische Fliesen aus Wien, lagert in seinem Depot tonnenweise Originale sowie hochwertige Reproduktionen.
historischefliesen.at

Wie ein Zauberteppich. Der Fliesenboden wirkt wie kunstvoll gewebt: ein in sich geschlossenes Muster mit Bordüre rundherum, hier in einem komplett sanierten Zinshaus.
© Philipp Schleidt
Zeitlos schön. Im »Beaulieu«, dem französischen Lokal in der Wiener City, schmücken wunderschöne historische Fliesen den Boden.
beaulieu-wien.at
Mustergültig
Besonders beliebt ist der Einsatz in Vorzimmern, Stiegenhäusern, Küchen, Bädern und Toiletten, aber auch auf Balkonen und Terrassen. Da braucht es dann keinen Teppich mehr. »Die Muster sind alleine schon wunderschön anzusehen und die Materialoberfläche sehr angenehm für die Füße.« Fußbodenheizungtauglich und frostbeständig sind übrigens sowohl die meisten Originalfliesen als auch die Reproduktionen aus Zement.
»Die Entscheidung zwischen Wiederverwendung und Reproduktion hängt oft vom Zustand der vorhandenen Fliesen und den spezifischen Anforderungen des Bauprojekts ab«, sagt Architektin Nina Heger, die in Zusammenarbeit mit dem Bauträger und Projektentwickler Liv Immobilien auch in neuen Objekten gerne Fliesen mit Tradition einsetzt. In beiden Fällen steht der Wunsch im Vordergrund, den Charme und die Eleganz vergangener Zeiten zu bewahren und in die Gegenwart zu transportieren. »Dieser Ansatz trägt nicht nur zur ästhetischen Aufwertung moderner Gebäude bei, sondern fördert auch ein nachhaltiges Bauverständnis, das auf Ressourcenschonung und Wertschätzung historischer Materialien basiert.«
Alte Baustoffe wie Holz und Stein oder eben Bodenfliesen aus Wiener Zinshäusern und Palais liegen auch Patrick Kropik, dem Gründer der Baustoffmanufaktur in Gmünd, am Herzen. Seit mehr als 15 Jahren schon ist er täglich auf der Suche nach solchen geschichtsträchtigen Materialien. Und demontiert sie am liebsten selbst. Denn: »Werden historische Fliesen von einem Laien herausgerissen, gehen neun von zehn kaputt. Und das ist ewig schade und nicht mehr wiedergutzumachen.« Der Waldviertler Baustoffexperte findet es erfreulich, »dass heute wieder vermehrt charaktervolle Muster und Oberflächen angefragt werden«. Auch im Sinne der Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. »Früher wurde viel Wert auf Qualität und das Erhalten der Dinge gelegt«, so Kropik, »auch seitens der Produzenten.« Zu diesen zählten in der Gründerzeit – bei uns sowie auf dem übrigen Gebiet der Monarchie – vor allem Wienerberger, Villeroy & Boch, Brüder Schwadron, die Fabrik Themenau, Lederer & Nessenyi und Engelhardt Graf Wolkenstein.

Viel Herzblut. Er rettet echte Originale und bildet sie bei Bedarf auch penibel genau nach: Patrick Kropik von der Baustoffmanufaktur in Gmünd.
baustoffmanufaktur.at
Wertbeständig
Überwältigend ist die Vielfalt der historischen Fliesen allemal. So gibt es nicht nur klassische Rechteckformen in unterschiedlichen Farben und Mustern, sondern auch historische Sechseckfliesen, Rosenspitz und das im Jugendstil beliebte Achteck. Schleidt und Kropik haben viele davon in ihren Sammlungen und Lagern. Ihre schönsten Originale geben sie nur ungern her: »Es sind Relikte aus vergangenen Epochen, die nur jene Menschen verwenden sollten, die ihren Wert zu schätzen wissen«, sagt Schleidt. Apropos Wert: Eine original Keramik- oder Feinsteinfliese kostet etwas sechs Euro netto pro Stück (Schleidt) bzw. rund 200 Euro netto pro Quadratmeter (Kropik). Die originalgetreuen Reproduktionen kommen auf etwas mehr als die Hälfte.