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© Jakob Vinzenz Zöbl

Energetisches Miteinander: Das Wohnquartier als Kraftwerkt

Nachhaltigkeit
Österreich

Das fossile Zeitalter ist vorbei. Zu einer nachhaltigen Energieversorgung gehört auch, dass immer mehr Siedlungen mit
autarken, grundstücksübergreifenden Systemen – sogenannten Anergienetzen – ausgestattet werden. Eine Reise durch das grüne Österreich.

Auf dem Areal zwischen Rennweg und Leberstraße wohnten viele Jahre lang Opels, Porsches und Volkswagen, in sehnsüchtiger Erwartung von Käuferinnen und Käufern. Dies ist nun Geschichte. In prominenter Lage und guter Verkehrsanbindung mit Bim und S‑Bahn, aber auch im akustischen Schlagschatten der vorbeidonnernden Südosttangente, plant die S+B Gruppe nun eine Stadt der Zukunft – mit Baumhainen, Pocket-Spielplätzen, einer vertikalen Farm, einer Fischzucht-Anlage, einer Aufbereitungsanlage für Regen- und Grauwasser, einer Kompoststation zur Herstellung von Terra Preta und sogar einer eigenen Mini-Kläranlage vor Ort.

»Es geht um ein ganz neues Nachdenken darüber, was Stadt ist und was sie eines Tages mal sein kann«, sagt Maria Megina, Projektleiterin und Partnerin im zuständigen Architekturbüro Dietrich Untertrifaller. »Mehr noch als heute werden sich die einzelnen Bauwerke und Gebäudegruppen in einer Stadt künftig selbst versorgen müssen, denn nur so wird es uns gelingen, den ökologischen Fußabdruck massiv zu reduzieren.« Angedacht ist, das Projekt mit einer dezentralen PV-Anlage, die sich über sämtliche Dach- und Fassadenflächen erstreckt, sowie mit einem lokalen Anergienetz auszustatten.

Wolfdieter Jarisch, Vorstand der S+B Gruppe, geht noch einen Schritt weiter: »Wir müssen unseren heutigen Umgang mit Energie und Ressourcen komplett neu denken. Dazu gehört auch, dass wir mit unserer PV-Anlage Wasserstoff herstellen könnten, den wir wiederum zum Heizen der Gebäude verwenden könnten. Utopie? Nein, keineswegs! Das sind interessante Energie-Alternativen, über die es sich lohnt, im Detail nachzudenken.« Sein Plan ist, das 220 Meter lange Grundstück zwischen T-Center und Camillo-Sitte-Bautechnikum mit einer dreidimensionalen, bis zu 15-stöckigen Matrix mit Wohnen, Kultur und Gewerbe zu bebauen. Frühester Baubeginn für die 140.000 Quadratmeter große Stadt ist in vier bis fünf Jahren.

Einen Schritt näher an der gebauten Realität sind die Anergienetze in Graz-Reininghaus, Salzburg-Gneis sowie im Village im Dritten in Wien. Beim 68 Meter hohen Mirror-Wohnturm, dem zweithöchsten Hochhaus in der Steiermark, errichtet nach Plänen von Pentaplan Architects, angepinselt in einer Mischung aus Aubergine und Ovomaltine, wurde ein Niedertemperatur-Nahwärmenetz mit der Abwärme der nahegelegenen Marienhütte installiert.

Mirror, Graz-Reininghaus. Der 68 Meter hohe Mirror-Tower des Österreichischen Siedlungswerks (ÖSW) wird mit Abwärme aus einem 600 Meter entfernten Stahlwerk beheizt. Das Projekt wurde zum Wohnbau des Jahres 2022 gekürt.
reininghausgruende.at, oesw.at

© Jakob Vinzenz Zöbl

Win-win im Nahwärmenetz

»Die Marienhütte ist der einzige Hersteller von Bewehrungsstahl in Österreich und damit ein wichtiger Player in der heimischen Bauwirtschaft«, heißt es auf Anfrage beim Österreichischen Siedlungswerk (ÖSW). »Erfreulicherweise ist die Marienhütte, die freilich große Mengen von Abwärme produziert, nur 600 Meter Luftlinie von unserem Grundstück entfernt. Mit dem lokalen Nahwärmenetz ergibt sich damit eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.« In Zahlen: Die Nahwärme ist imstande, 100 Prozent des Wärmebedarfs im Mirror abzudecken. Die Warmwasseraufbereitung erfolgt zentral mittels Speicherladesystem.

In Wien wiederum entsteht auf den Gründen des ehemaligen Aspangbahnhofs ein energetisch innovatives Öko-Quartier unter dem Titel Village im Dritten. Unter dem gesamten Areal befindet sich ein Nahwärme-Anergienetz mit einigen Hunderten geothermischen Tiefenbohrungen. Auf diese Weise können die rund 1.900 Wohnungen – zu 100 Prozent regenerativ und ohne jeden Einsatz von fossilen Brennstoffen – im Winter mit Wärme und im Sommer mit einer Stützkühlung versorgt werden. Entwickelt wird das Wohndorf für insgesamt 4.000 Einwohner:innen von der Austria Real Estate (ARE), die hier freifinanzierte Eigentumswohnungen errichtet. Ergänzt wird das Angebot von einer Vielzahl von geförderten Mietwohnungen diverser gemeinnütziger Bauträger.

Eines der technischen Highlights im Village im Dritten ist ohne jeden Zweifel das sogenannte Stadtregal am Baufeld 10, errichtet von der Arwag, geplant von Gerner Gerner Plus und heri & salli architekten. Innovativ sind hier nicht nur die geothermische Energieversorgung und das sozial durchmischte Nutzungskonzept mit anmietbaren Joker-Räumen und Minibüros, sondern auch die Toiletten: Im Rahmen eines geförderten Forschungsprojekts nämlich sollen Urin und Feststoffe voneinander getrennt werden. Die so gewonnenen, mineralisch wertvollen Abwässer sollen in Folge aufbereitet und zu Trockendüngemittel für die Landwirtschaft weiterverarbeitet werden.

Umgekehrte Fußbodenheizung

»Wir sind uns dessen bewusst, dass wir hier Neuland betreten und im Rahmen des Wohnbaus ein großes Tabu brechen«, sagt Antonia Roither-Voigt, Geschäftsführerin von Arwag Bauträger. »Aber als großer und wichtiger Player in der Baubranche erachten wir es als unsere Aufgabe, in die Bresche zu springen und Pionierarbeit zu leisten. Letztendlich müssen wir lernen, mit Ressourcen wie Boden, Energie und Trinkwasser sparsam und verantwortungsvoll umzugehen. Die Zukunft, davon bin ich überzeugt, sind energieautarke Quartiere mit wenig Bedarf und einem Minimum an Abfällen und Emissionen.« Geplante Fertigstellung: Sommer 2025.

Noch etwas länger gedulden müssen sich die Mieter und Käuferinnen im Wohnprojekt Gnice, benannt nach dem Salzburger Stadtteil Gneis. Doch die Wartezeit macht sich bezahlt: Unter den insgesamt 258 Wohnungen, verteilt auf 16 Einzelobjekte, befindet sich eine 10.000 Quadratmeter große, zusammenhängende Fundamentplatte, unter dieser wiederum wurden sage und schreibe 70 Kilometer Kunststoffschläuche ins Schotterbett hineingelegt.

»Im Grunde genommen funktioniert das System wie eine umgekehrte Fußbodenheizung«, erklärt Stephan Gröger, Geschäftsführer des gemeinnützigen Bauträgers Heimat Österreich. »Nur geben wir hier keine Wärme an den Fußboden ab, sondern entziehen sie dem Erdreich, um sie anschließend in die einzelnen Wohnungen weiterzuleiten.« Mithilfe einer Wärmepumpe wird die gewonnene geothermische Energie um den Faktor 4 nach oben skaliert, ein Wassertank mit 123.000 Litern Fassungsvermögen dient dabei als Pufferspeicher. Es ist das erste Mal in der Geschichte des österreichischen Wohnbaus, dass eine so große, gebäudeübergreifende Geothermie-Anlage realisiert wird. Die Zukunft kann kommen.

Erschienen in
Ausgabe 02/2024

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Wojciech Czaja
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