Zucker im Wandel: Vom Apothekergeheimnis zum Gesundheitsdilemma
Die süße Versuchung ist Segen und Fluch gleichermaßen. Was heute in Übermengen genossen zu gesundheitlichen Problemen führt, war früher höchstes Luxusgut. Zeit für einen natürlichen Umgang damit.
»A spoonful of sugar helps the medicine go down« – die Kindheitsheldin Mary Poppins besang bereits 1964 die süße Freudenwirkung des Zuckers. Heute ist das Kohlenhydrat fester Bestandteil unserer Esskultur, wird geliebt und verteufelt, in rauen Mengen verspeist oder auf ein Minimum reduziert. Das war aber nicht immer der Fall. Lange Zeit wusste nur ein Bruchteil der Welt von dem Gaumenglück, das sich hinter dem Zuckerrohr versteckte. Auf Melanesien kaute man bereits vor 10.000 Jahren an der energiereichen Pflanze, die über Seewege nach Indien und weiter nach Persien gelangte. Dort wurde Zuckerrohr als Medikament und Luxusgut verwendet. Dass die Kostbarkeit schließlich nach Europa kam, ist den Kreuzrittern zu verdanken, die das »Saccharum officinarum« im 11. Jahrhundert mit an Bord nahmen.
Lange Zeit wurde es als rares Importgut vornehmlich in der Apothekerkunst eingesetzt. Erst der massive Anbau auf kolonialen Plantagen, die ab dem 16. Jahrhundert durch Sklavenarbeit betrieben wurden, sowie die zusätzliche Entdeckung des Zuckergehalts der Rübe ermöglichten den Siegeszug des Zuckers, der sich als Süßungsmittel für Speisen in die Riege von Honig und Trockenfrüchten gesellte. Die Industrielle Revolution katapultierte die Produktion endgültig nach vorn – von geschätzten 900.000 Tonnen pro Jahr um 1850 hin zu elf Millionen Tonnen um 1900. Heute liegt der Wert, so das Thünen-Institut, bei 193 Millionen Tonnen pro Jahr weltweit.
Vom Luxusgut zum Alltagsrisiko
Das einst rare Luxusgut ist heute Haushaltsstandard – und gilt als süßer Segen mit gesundheitlichem Fluch: Die Anklageliste reicht von Karies, Übergewicht und Diabetes bis hin zu Hautalterung. So rät die WHO, freien, zugesetzten Zucker auf unter zehn Prozent der Tagesenergiemenge zu beschränken. Eine durchaus umständliche Prozentrechnung; wichtiger ist wohl die Überlegung, wie der moderate Zuckerkonsum im Alltag umgesetzt werden kann. Dabei sind möglichst naturbelassene Produkte ohne extra Zuckerzusatz ein weitaus besserer Lösungsansatz als eigens umformulierte zuckerfreie Ersatzprodukte, die ihrerseits umstrittene Lebensmittelzusatzstoffe enthalten. Alternativen wie Xylit, Stevia und Co gelten als vielversprechend, sind aber teilweise noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion. Im besten Fall greifen Süßmäuler zum natürlichen Substitut: In Honig, Agavendicksaft und Früchten finden sich zumeist Ballaststoffe oder Mikronährstoffe. Völlig »leer« ist unser viel geliebter Zucker übrigens nicht: Im Leistungssport wird er als Energielieferant genutzt, während er in der Pharmazeutik zur (Weiter-)Entwicklung von Medikamenten eingesetzt wird.
Es ist also nicht das eine Löffelchen Zucker, das krank macht – vielmehr lauert die Gefahr im beständigen Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel, die versteckten Zucker enthalten. Der renommierte Mediziner Dr. David L. Katz rät in diesem Zusammenhang zur Geschmacksknospen-Rehabilitation. Kurz gefasst: Weniger Zucker führt mit der Zeit zu mehr Genuss. Als »Luxusgut« in moderaten Maßen und im Kontext einer gesunden Lebensführung genossen, darf das »weiße Gold« demnach durchaus Teil unserer Ernährung bleiben.