Den Schlüssel zu den Proberäumlichkeiten des Schauspielhauses hütet Ensemblemitglied Til Schindler wie einen Schatz. Er kramt ihn aus einem kleinen Fach seiner Geldbörse hervor und öffnet damit die Türe zu einem Ort, an dem konstant daran gearbeitet wird, die Welt mitsamt all ihren Seltsamkeiten auf die Probe zu stellen. „Wir sind die letzten, die hier vor den Weihnachtsfeiertagen reinkommen“, erklärt der Schauspieler, während er den Schlüssel zurück in seine Geldbörse steckt. Nach den Feiertagen wird in dem großen, offenen Raum unweit der U-Bahn-Station Längenfeldgasse wieder „Coma“ geprobt, ein Stück von Mazlum Nergiz, das vom Schweizer Regisseur Marcel Schwald inszeniert wird und am 27. Jänner im Schauspielhaus Premiere feiert.

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Til Schindler steht in dem Stück gemeinsam mit Jesse Inman auf der Bühne. „Es geht um einen jungen Mann, der nach Mexiko reist. Er ist auf der Suche nach seiner Vergangenheit, aber auch nach Intimität und Nähe. Gleichzeitig ist es ein Text, in dem Tod und Gewalt ständig präsent sind“, fasst der 1993 in München geborene Schauspieler das Stück zusammen. Mit Johanna Heusser ist auch eine Choreografin mit an Bord. „Das ist auch deshalb toll, weil ich schon lange nicht mehr so stark körperlich und tänzerisch gearbeitet habe“, erklärt Schindler, der sich selbst in erster Linie als „Kopfschauspieler“ bezeichnet, es aber schön findet, für „Coma“ wieder einmal vom eigenen Körper auszugehen.

Wie er das genau meint? „Wenn ich beginne, mich mit einem Stoff auseinanderzusetzen, tue ich das zunächst auf sehr rationale Weise. Ich recherchiere viel und sammle Material". Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu, dass es jedoch genauso wichtig ist, die Recherche an einem gewissen Punkt wieder loszulassen, eine szenische Fantasie zu entwickeln und darauf zu reagieren, was im Moment passiert.

„Tragödienbastard"

Die Uraufführung von Ewe Benbeneks „Tragödienbastard“ ist für Til Schindler eine jener Produktionen, bei der sowohl der Recherchearbeit als auch dem gemeinsamen Ausprobieren sehr viel Zeit eingeräumt wurde. „Meine allererste Aktivität am Schauspielhaus war ein Treffen mit der Autorin“, erinnert er sich. „Die Arbeit war auch deshalb so schön, weil wir sehr viel über das Stück nachgedacht und auch kontrovers diskutiert haben. Am Anfang wussten wir noch gar nicht, wie das Endergebnis aussehen könnte.“

2021 erhielt Ewe Benbenek für ihr Debütstück „Tragödienbastard" den Mülheimer Dramatikerpreis und wurde in der Kritiker*innenumfrage von Theater heute zur Nachwuchsautorin des Jahres gewählt.

Foto: Matthias Heschl

Als Gewinnerstück der letztjährigen, aufgrund der Pandemie nur online abgehaltenen Mülheimer Theatertage wird es, nach vielen erfolgreichen Aufführungen im Schauspielhaus, 2022 in Mülheim nochmals auf die Bühne gebracht. Wie sehr sich Til Schindler darauf freut, es gemeinsam mit Clara Liepsch und Tamara Semzov noch einmal zu spielen, braucht er nicht extra zu betonen. Man sieht es ihm an.

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„Oxytocin Baby"

Mit derselben Begeisterung spricht der Schauspieler, der seit der Spielzeit 2019/20 zum Ensemble des Schauspielhauses gehört, über die Arbeit an „Oxytocin Baby“ von Anna Neata. Einem auf den ersten Blick strengen formalen Überbau folgend arbeiten sich die Spieler*innen darin an Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Mutterschaft, Geburt und Selbstbestimmung ab. „Wir haben bei diesem Stück sehr formal gearbeitet, mit einer durchkomponierten Puppenhaftigkeit“, sagt Schindler. „Im ersten Moment könnte man glauben, dass man sich als Spieler*in in so einer strengen Choreografie unfrei fühlt, aber wir haben uns Freiräume gesucht und Platz für Improvisation geschaffen.

In ihrem Debütstück „Oxytocin Baby" schreibt Anna Neata, Gewinnerin des Hans- Gratzer-Stipendiums 2020, hochmusikalisch und formal bestechend über Schwangerschaft und Mutterschaft, Geburtenkontrolle und Selbstbestimmung.

Foto: Matthias Heschl

Letztendlich hat es uns diese Kasperletheaterästhetik ermöglicht, innerhalb eines festen Rahmens sehr viel Verrücktes aus den Figuren herauszuholen und groß zu spielen, ohne dabei Angst vor Klischees haben zu müssen.“

Wichtig ist Til Schindler jedoch, dass sich die Wahl eines bestimmten formalen Rahmens auch inhaltlich begründen lässt. „Dass wir Spieler*innen in ‚Oxytocin Baby‘ nur bis zur Hüfte zu sehen sind, also keinen Zugriff auf unseren Unterkörper haben, spielt darauf an, dass Frauen in patriarchalen Zusammenhängen oftmals keine Verfügungsgewalt über ihre Körper haben“, ergänzt er.

Offenheit

Im Probenprozess ist es Til Schindler wichtig, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird und Probleme angesprochen werden können. „Egal wie gut eine Produktion läuft, einmal gibt es immer Streit“, merkt er lachend an. Am Schauspielhaus wurde er mit genau dieser Offenheit empfangen. „Ich fühle mich ernst genommen und kann eigene Ideen einbringen. Wir arbeiten auf einer Ebene miteinander.“ Das weiß er auch deshalb sehr zu schätzen, weil er sich nicht nur für das Spielen, sondern auch für alle anderen Prozesse am Theater interessiert. Ohne sich, fügt er hinzu, in die Arbeit der anderen Gewerke einmischen zu wollen. Die Arbeit im Schauspielhaus erlebt Til Schindler, der als Gaststudent auch Szenisches Schreiben studiert hat, als kollaborativen Prozess, der es möglich macht, auch in anderen Bereichen als „dem eigenen“ Ideen einzubringen.

Vor seinem Umzug nach Wien war Berlin sieben Jahre lang die Wahlheimat des Schauspielers. Der Wunsch, in ein festes Ensemble zu gehen, entstand schon während des Studiums. „Es ist einfach cool, jeden Tag als Schauspieler arbeiten zu können. Außerdem entsteht eine besondere Form der Zusammenarbeit, wenn man sich kennt und vertraut.“ Neben dem Theater haben aber auch Film und Fernsehen einen festen Platz in Til Schindlers beruflichem Alltag. Verzichten möchte er weder auf das eine noch auf das andere. „Wenn ich gerade drehe, finde ich Film besser. Wenn ich an einem Stück arbeite, dann Theater“, bringt er den Zwiespalt, der eigentlich gar keiner ist, lachend auf den Punkt.  

Einfach abschalten

In Wien hat sich Til Schindler schnell gut aufgehoben gefühlt. Auch wenn es aufgrund der vielen Schließungen noch viel Neues für ihn zu entdecken gibt. Nichts, was sich nicht (hoffentlich) bald nachholen lässt. In seiner WG ist der Schauspieler von Menschen umgeben, die nichts mit Theater und Film zu tun haben. Ein Pluspunkt, wie er findet, „weil man sonst nur in diesem Kosmos bleibt“. Abschalten fällt dem Wahl-Wiener, der sich schon sehr auf seine nächste Arbeit, eine Inszenierung von Damian Rebgetz, freut, aber ohnehin nicht so schwer.

„Wenn Kolleg*innen erzählen, dass sie nach der Probe oder einer Aufführung nicht mehr aus ihrer Rolle rausfinden, kann ich das nicht wirklich nachvollziehen“, fügt er lachend hinzu. Das bedeutet keinesfalls, dass Til Schindler weniger leidenschaftlich an seinen Beruf herangeht. Sonst wäre der Schlüssel in seiner Geldbörse kein Schatz, sondern nur ein ganz normaler Schlüssel. Und die Probebühne nur ein einfacher Raum und keine Welt voller Möglichkeiten.

Foto: Jakob Fliedner

Zur Person: Til Schindler

Geboren 1993 in München, absolvierte Til Schindler von 2015 bis 2019 sein Schauspielstudium an der Universität der Künste Berlin. 2019 studierte er an der UdK auch im Studiengang Szenisches Schreiben. Gastengagements führten ihn ans Deutsche Theater Berlin und Residenztheater München. Seit 2019 ist er Ensemblemitglied am Schauspielhaus Wien.