„Tragödienbastard“ ist dein erster Theatertext. Mit welchem Mix aus Gefühlen hast du der Uraufführung im Herbst entgegengeblickt?

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Aufregung wäre wohl das Wort, das am besten beschreibt, was ich gefühlt habe. Aber hinter diesem einem Wort steckten viele Gefühle für mich. Aufgeregt oder eher aufgeregt-dankbar war ich, dass die Uraufführung überhaupt stattgefunden hat. Der „Tragödienbastard“ sollte ja eigentlich Anfang April 2020 uraufgeführt werden. Die Pandemie kam. Niemand wusste wirklich, wie sich das entwickeln würde. Und auch jetzt, ein Jahr später, können die Theater nicht wirklich planen. Das Schauspielhaus Wien hat so viel Arbeit geleistet und sich sehr dafür eingesetzt, dass es dann am 30. Oktober 2020 zur Uraufführung kommen konnte – wieder nur drei Tage vor dem zweiten großen Lockdown. Ich bin dem Haus echt so dankbar, dass sie es möglich gemacht haben.

Natürlich war ich auch persönlich aufgeregt, weil es das erste Mal für mich war, dass ein Stück von mir inszeniert wurde. Ich wusste natürlich nicht, wie das Publikum auf meine Worte reagieren würde. Das war schon aufregend und es hat sich angefühlt wie ins kalte Wasser zu springen. Das macht das Schreiben für das Theater aber auch so besonders.

Warst du in die Probenarbeit eingebunden?

Die Arbeit an der Inszenierung hat der Regisseur Florian Fischer gemacht. Und natürlich all diejenigen, die an der Inszenierung beteiligt waren. Darunter die Dramaturgie am Schauspielhaus, die Bühnenbildnerin Lili Anschütz, die Musikerin Rosa Anschütz, die Kostüme von Henriette Müller und natürlich die wunderbaren Schauspieler*innen Clara Liepsch, Til Schindler und Tamara Semzov. Sie haben es geschafft ihre Perspektiven auf die Themen, die im „Tragödienbastard“ verhandelt werden, in ihr Spiel mit einzutragen. Das finde ich echt bewundernswert. Ich wurde aber immer wieder eingebunden bei zentralen Fragen und habe Proben gesehen.

Wütende postmigrantische Stimmen

Wie kam es eigentlich zur Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Wien?

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Es hat damit angefangen, dass ich mich erstmal persönlich dafür entschieden habe mit literarischen Texten „raus zu gehen“, die neben meinem bis dahin „richtigen“, akademischen Job so entstanden sind. Ich war ja nicht an einem der gängigen literarischen Schreibinstitute. Ich wusste, dass es dauern könnte, bis meine Texte wahrgenommen werden würden. Dass es dann so schnell ging, damit hätte ich nicht gerechnet. Aber es hat tatsächlich beim ersten Mal geklappt. Ich wurde für den Retzhofer Dramapreis 2019 nominiert und habe mich riesig gefreut.

Der Preis wird vom UniT unter der Leitung von Edith Draxl ausgerichtet und geht mit Workshops einher, die auf ein Jahr verteilt sind. Das ist ein tolles Programm, in dem ich mich viel weiterentwickeln konnte. Das Programm ist auch einfach besonders, weil das UniT sich traut auch Autor*innen zu fördern, die vorher noch keine Verbindung zu einer Literaturszene hatten.  Ich habe bei einem der Workshops den Regisseur Florian Fischer kennengelernt. Er hat sich dafür eingesetzt, dass im Rahmen eines Arbeitsateliers am Schauspielhaus Wien mein Theatertext in seiner Inszenierung entstehen konnte.

Wie ist der Text entstanden? Gab es eine Form von Ausgangspunkt oder Initialzündung?

Ja, die gab es tatsächlich. Ich habe mich seit dem Studium immer wieder viel mit der antiken griechischen Tragödie auseinandergesetzt und mich dann gefragt, wie sie aussehen würde, wenn sie heute wiederauferstehen würde. Wer wären ihre Protagonist*innen? Was wären die Konflikte, die unumgänglich wären und sich aufdrängen würden? Und ich dachte, wenn die Tragödie heute wieder auferstehen würde, würden in ihr wütende postmigrantische Stimmen sprechen. Vor allem jene, die sich mit patriarchalen Anordnungen herumschlagen müssen.

Die Tragödie als Rahmung

In deinem Stück geht es ja auch um Anpassungsdruck. Ist das etwas, worüber du aus deinen eigenen Erfahrungen heraus sprichst?

Ja, auf jeden Fall. Es sind eigene Erfahrungen in den Text geflossen. Ich glaube oder hoffe, dass der Tragödienbastard von unterschiedlichen Dingen handelt. Aber eine Sache, die auch verhandelt wird, ist die postmigrantische Stimme einer Person, die als Kind mit ihren Eltern aus Polen migriert ist. Das lehnt sich natürlich an meine Biografie an. Man muss dazusagen, dass die postmigrantische Community sehr divers ist und diese Vielschichtigkeit in den deutschsprachigen Strukturen und Institutionen immer noch viel zu wenig repräsentiert ist. Und viele Themen werden noch zu wenig gefördert und auf die Agenda gesetzt, wie ich finde. So beispielsweise Arbeiten, die sich aus einer postmigrantischen Perspektive mit Rassismus auseinandersetzen.

Ich glaube, dass ein biografischer Background wie der meine vielleicht sogar besser über die Frage von Klasse beschreibbar ist."

Ewe Benbenek

Eine christlich sozialisierte und aus Polen migrierte Position ist eine sehr spezifische innerhalb der Community und ich glaube, dass ein biografischer Background wie der meine vielleicht sogar besser über die Frage von Klasse beschreibbar ist. Meine Eltern sind ohne Geld und soziales und bildungsspezifisches Kapital nach Deutschland gekommen und haben ihr ganzes Leben hart und in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet. In so einer Konstellation muss man so viel mitmachen, ja, sich anpassen, damit man sozial nicht noch tiefer fällt.

Das ist ein enormer Druck, für den erstmal eine Sprache gefunden werden muss, die das beschreibbar macht, was da eigentlich so alles abgeht. Und auch, wenn ich nun als Erwachsene natürlich in einer ganz anderen Situation bin als meine Eltern, holen mich diese Dinge bis heute in unterschiedlichen Situationen und Arbeitsanordnungen immer wieder ein.

Meist geht mit dem Gefühl sich anpassen zu müssen, auch ein Leistungsdruck einher. Gibt es in unserer Gesellschaft überhaupt Möglichkeiten, diesem Leistungsdruck zu entkommen?

Oh, das ist eine gute Frage. Ich meine, ich kann so viele Smoothies trinken, so viel Yoga machen, wie ich will, aber ich glaube daran, dass „dem Leistungsdruck zu entkommen“ niemals etwas ist, das nur individuell gelöst werden kann. Es ist ein strukturelles Problem. Daher muss es kollektive und politische Lösungen geben. Gelder müssen umverteilt werden, Strukturen weniger kompetitiv und solidarisch organisiert werden, damit wir oder damit bestimmte Menschen nicht unter dem, was sie leisten müssen, zusammenbrechen.

Regelmäßige Schreibpraxis

War von Anfang an klar, dass du dich mit dem Thema in einem Theatertext auseinandersetzen möchtest? Oder anders gefragt: Stand zuerst das Thema oder die Form fest?

Schwierig zu sagen. Die Tragödie als Rahmung gab es für mich bei diesem Projekt ja von Anfang an. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, mit formalen Elementen zu experimentieren – wie beispielsweise dem Chor. Aber die Themen waren auch schon von Anfang an da, auch wenn sie sich weiterentwickelt haben. Also beides.

Sind es Themen, persönliche Eindrücke und Erinnerungen oder ganz andere Dinge, die dich zum Schreiben bringen?

Da würde ich sagen … es sind die Themen! Zurzeit sind es Fragen um die Verschränkung von Postmigration und Klasse und die Rolle von Frauen* in diesem Komplex, die mich besonders interessieren. Es ist aber auch die Sprache an sich, die mich zum Schreiben bringt. Es gibt Sätze, die ich gelesen oder gehört habe, oder Wörter, die mir in den Kopf kommen, mit denen ich dann im Schreiben herumspiele.

Wie sieht der Schreibprozess bei dir aus?

Eine regelmäßige Schreibpraxis ist wichtig. Ich versuche tatsächlich täglich Zeitfenster zu setzen, in denen ich schreibe. Diese regelmäßige Schreibpraxis zu etablieren und lebendig zu halten ist das allerwichtigste. Konkret schreibe ich bei der Entwicklung eines Textes erstmal recht intuitiv Dinge runter. Dann schaue ich, was da ist und bearbeite viel und recherchiere immer zwischendurch. Man könnte sagen, ich mache erstmal so Rohmaterial, das ich dann verfeinere. Man muss nur aufpassen, dass die Dinge nicht immer zu sauber werden, weil sie sich sonst auch wieder verlieren.

Inseln in der deutschen Theaterlandschaft

Welche Rolle spielt das Ausstellen und Hinterfragen von sprachlichen Strukturen in deiner Arbeit?

Ich glaube, bisher arbeite ich viel damit, dass ich Sprache, die sich in bestimmten Diskursen zu bestimmten Themen etabliert hat, aus ihren Kontexten reiße und sie in meinen Texten „durch die Mangel drehe". Also verarbeite und mit dieser Sprache spiele. Dieser Prozess spielt eine sehr wichtige Rolle für mich.

Wie schätzt du die Rolle von Theater bei der Auseinandersetzung mit solch wichtigen gesellschaftspolitischen Themen ein?

Es ist irgendwie paradox. Einerseits hat das Theater in meiner Wahrnehmung in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend dazu beigetragen, dass sich postmigrantische Diskurse und Diskurse um Klassismus und intersektionalen Feminismus gesellschaftlich eintragen konnten. Natürlich war die Etablierung eines postmigrantischen Theaters unter der Leitung von Shermin Langhoff dabei zentral. Ich glaube, das hat dazu geführt, dass mehr Projekte und Institutionen in der Theaterwelt entstanden sind, die diese Perspektiven in ihr Zentrum rücken. Auch wenn man sich Spielpläne anschaut, tauchen diese Themen immer mehr auf.

Trotzdem würde ich sagen, dass diese Themen irgendwie immer noch wie besondere Inseln in der deutschen Theaterlandschaft behandelt werden. Dass sie oft noch als „neu“ oder „special“ gelabelt werden. Das wundert mich. Und ich beobachte auch, dass es dadurch schnell zu einem Tokenizing kommen kann, wenn Institutionen diese Themen für sich neu entdecken. Das bedeutet, dass man dann nur eine Position zeigt, die aber eigentlich in einen vielschichtigen und komplexeren Zusammenhang gehört. Das ist gefährlich, weil ich glaube, dass Diskurse um Postmigration in ihrer Komplexität erst dann wirklich verstehbar werden, wenn man ihre Vielheit abbildet. Da muss also noch viel passieren im Kontext einer deutschsprachigen Theaterlandschaft.

Theater als öffentliche Institution

Was müsste deiner Meinung nach passieren, damit die Zuschauer*innen in den Theatersälen die Gesellschaft wirklich abbilden?

Oh, das ist eine schwierige Frage und ich weiß nicht, ob ich da als Autorin die richtige Ansprechpartnerin bin. Da sind wohl eher Intendant*innen und  Dramaturg*innen die wirklichen Expert*innen. Aber ich versuche es mal aus meiner Perspektive so zu beantworten: Ich möchte das lesen und auf Bühnen sehen, das mich selbst beschäftigt, mich bewegt, mich angeht. Ich glaube, wenn Theater sich für ein bestimmtes Publikum interessieren oder ihr Publikum erweitern möchten, müssen sie sich eben damit auseinandersetzen, was eine Gruppe sehen will.

Ich glaube auch, dass Leute, die nie an das Theater herangeführt wurden, tatsächlich Angst haben diesen Raum zu betreten. Meine Eltern beispielsweise waren mit mir vor einigen Jahren das erste Mal im Theater. Ich habe gemerkt, dass sie sich unwohl gefühlt haben und nervös waren, wollte aber nicht, dass sie sich so fühlen müssen und habe darüber nachgedacht, was ich machen kann. Beim zweiten Theaterbesuch mit ihnen habe ich sie dann vorher total gebrieft. Ich habe ihnen erklärt wie der Raum funktioniert, dass es auch lustig ist die Leute zu beobachten, die da so hingehen. Zudem habe ich ihnen mehr über den Inhalt und die Form des Stücks erzählt und versucht ihnen klar zu machen, dass auch andere Menschen in ein Stück gehen und nicht alles verstehen und dies auch der Reiz an Theater ist.

Außerdem habe ich versucht ihnen zu erklären, dass das Theater eine öffentliche Institution ist und auch sie ein Recht haben dorthin zu gehen und zu schauen, was so passiert. Ich habe gemerkt, dass das einen riesengroßen Unterschied gemacht hat. Vielleicht muss es mehr so Patenschaften geben, die Menschen, die sonst nicht ins Theater gehen oder noch nie gegangen sind, begleiten – ohne von oben auf diese Menschen herab zu schauen.

Politisches Theater

Muss Theater politisch sein?

Für mich muss es das sein, ja. Aber natürlich gibt es eine sehr lange Debatte darüber, was das „Politische“ im Theater ist. Man kann, glaube ich, schon beobachten, dass es seit den Neunzigern – und dann recht lange – eine Konzentration auf die Form im Theater gab, zumindest in den etablierten Theaterkontexten. Da gab es auch Stimmen, die gesagt haben, Theater ist immer politisch, auch wenn es sich nur mit seinen eigenen Ästhetiken auseinandersetzt. Ich weiß nicht, aber ich denke, dass sich hinter dieser Abwehr von „politischen Inhalten“ im Theater vielleicht auch elitäre Positionen verstecken, die ihre Machtpositionen nicht aufgeben möchten.

Ich glaube nicht daran, dass es reicht zu sagen, Theater sei ‚immer politisch' oder Theater ist auch dann schon politisch, wenn es sich nur mit seinen eigenen Ästhetiken auseinandersetzt."

Ewe Benbenek

Und auch heute finde ich, dass es noch viele Theaterinstitutionen gibt, die sich stärker die Frage stellen müssen, welche politischen Inhalte auch außerhalb eines weißen, bürgerlichen Mittelschichts-Rahmens relevant sind und wer sie produzieren darf. Ich glaube nicht daran, dass es reicht zu sagen, Theater sei „immer politisch“ oder Theater ist auch dann schon politisch, wenn es sich nur mit seinen eigenen Ästhetiken auseinandersetzt. Sich für politische Themen zu entscheiden, die im gesellschaftlichen Diskurs unterrepräsentiert sind, wird immer auch nach sich ziehen, dass neue Formen und Poetiken entstehen werden.

Kannst du schon etwas über deine nächsten Projekte verraten?

Na klar. Ich arbeite an einem neuen Stück – „Juices“. Es geht um Flüssigkeiten. Thematisch könnte man das vielleicht am ehesten so beschreiben, dass diese Flüssigkeiten intersektional-feministische Themen berühren. Diesmal geht es vielleicht noch stärker um die Frage von Klasse. Aber es wird auch gebadet und viel Pleasure-Time gemacht.

Zur Person: Ewe Benbenek

Ewe Benbenek kam Ende der 1980er-Jahre mit ihren Eltern nach Deutschland und wuchs in Niedersachsen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und Politik- und Literaturwissenschaften mit Osteuropaschwerpunkt am University College London sowie Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Benbenek ist Autorin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und nimmt derzeit am Drama Forum Graz teil.

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