Weltenbewegend: Ragazzi del Mondo
In „Ragazzi del Mondo“, dem neuen Stück des aktionstheater ensembles, zerplatzen Blasen. Und vielleicht auch Träume. Ein Traum bleibt jedoch: der vom Miteinander. Wir haben mit Gründer und Regisseur Martin Gruber über seine Theaterarbeit, den Kampf zwischen Ohnmacht und Hoffnung und das kommende Gastspiel am New Yorker Broadway gesprochen.

Foto: Maximilian Lottmann
„Ragazzi del Mondo. Nur eine Welt“ lautet der Titel des neuen Stücks des aktionstheater ensembles, das am 11. Juni im Theater am Werk Premiere feiert. Martin Gruber, Gründer und Regisseur, kommt direkt von den Proben zum Interview. Die Truppe steckt mitten in der heißen Endprobenphase. Dass er gerade ganz in seiner Welt – und zur Gänze in seinem Element war –, merkt man an der Energie, die auch im Gespräch aus ihm heraussprudelt. Immer wieder steht er auf, um Dinge zu veranschaulichen, die sich mit Worten alleine nicht ausdrücken lassen.
BÜHNE: Dadurch, dass der Startpunkt eurer Theaterproduktionen immer persönliche Geschichten sind, könnte man schnell den Eindruck bekommen, dass viele Dinge improvisiert sind. Das stimmt aber gar nicht, richtig?
Martin Gruber: Alles ist durchkomponiert, es gibt nicht einen einzigen Blick, der improvisiert ist. Wir beginnen in der Arbeit zwar mit den persönlichen Geschichten der Spieler*innen, diese werden im Laufe der Probenarbeit jedoch radikal verdichtet und montiert. Kunst ist für mich immer radikale Verdichtung. Es ist schön, wenn das Gefühl aufkommt, das alles sei direkt aus dem Leben gegriffen, doch genau dieses Gefühl herzustellen, ist eine der schwierigsten Aufgaben im Probenprozess. Auch wenn es um den sprachlichen Ausdruck geht, arbeite ich sehr gerne mit dem Duktus der jeweiligen Schauspielerin oder des jeweiligen Schauspielers. Dabei entsteht jedoch nur scheinbar so etwas wie Authentizität, denn die ist auf einer Theaterbühne gar nicht möglich. Ich finde es jedoch gut, wenn es so wirkt, weil dann vielleicht bei den Zuschauer*innen eher das Gefühl entsteht, dass das Gesprochene etwas mit ihnen zu tun hat.
Wie gelingt der Brückenschlag zwischen dieser präzisen Regiearbeit und dem Miteinbeziehen des Ensembles?
Das ist für mich kein Widerspruch. Für mich geht es, mit den Begrifflichkeiten der Semiotik gesprochen, immer um alle Zeichen. Um eine Gleichwertigkeit aller Zeichen. Das bedeutet, dass Musik, Text und Choreografie gleich wichtig sind. Durch die Gleichwertigkeit der Bedeutungsträger verschieben sich gewisse Prämissen, die das deutschsprachige Theater für lange Zeit geprägt haben. In genau dieser Verschiebung liegt für mich eine große Chance.
Gerät die Sprache dadurch in den Hintergrund?
Im Gegenteil. Sie muss noch viel genauer analysiert werden. Deshalb arbeiten wir uns auch gerne an jenen Momenten ab, in denen die Sprache versagt. Ich bin davon überzeugt, dass es gerade wichtiger denn je ist, Sprache auszustellen und sich selbst immer wieder die Frage zu stellen, was ein bestimmter Satz in einem auslöst oder ob er eigentlich nur eine Phrase ist, die dazu dient, zu manipulieren und mit Emotionen zu jonglieren.

Foto: Maximilian Lottmann
„Nur eine Welt“, der Untertitel eures neuen Stückes, klingt im ersten Moment ziemlich banal, fast kitschig. Was steckt dahinter?
Natürlich ist das Kitsch. Aber es ist eben auch eine Tatsache, dass es nur eine Welt gibt (lacht). Wie auch die Feststellung, dass dieses Gefühl selbst in unserer vermeintlich homogenen Blase gar nicht existiert. Innerhalb der jeweiligen Bubble gibt es dann wieder eine und innerhalb dieser dann noch eine. So lässt sich das immer weiter fortführen. Stark heruntergebrochen geht es uns also darum, Differenzen auch mal auszuhalten, statt immer kleinteiliger zu werden.
Wie kommt es, dass sich die Frage nach den Möglichkeiten des Miteinanders durch so viele eurer Stücke zieht?
Weil es um Kommunikation geht. Und Kommunikation die Grundlage von allem ist. Wenn wir das nicht auf die Reihe kriegen, haben wir ein riesiges Problem, weil es dann Diskurse, die uns eigentlich alle etwas angehen – wie beispielsweise die Klimakrise –, nie aus bestimmten Bubbles rausschaffen. Es ist nicht leicht, aber wir werden nicht darum herumkommen, es immer und immer wieder zu probieren, bestimmte Diskurse anzustoßen. Mit der Kunst haben wir diesbezüglich eine tolle Möglichkeit, weil sie uns auch auf einer sinnlich-emotionalen Ebene erreichen kann. Mir fällt gerade ein Beispiel aus meinem eigenen Leben ein: Ich habe eine Nachbarin, die ganz klar einer anderen politischen Strömung zugetan ist als ich, die jedoch immer wieder den Kontakt zu mir sucht. Ich merke, sie möchte im Gespräch bleiben und dem möchte ich mich weder entziehen noch ihr auf herablassende Weise die Welt erklären.
Ich höre da einen Funken Hoffnung heraus, der vielen Menschen abhanden gekommen zu sein scheint …
Einerseits geht es mir schon darum, Bilder der Verstörung zu zeichnen. Bilder, die wie ein Fiebertraum anmuten. Andererseits möchte ich genau diese vermeintliche Ohnmacht thematisieren. So ohnmächtig sind wir nämlich gar nicht. Man muss sich ja nicht gleich für die Präsidentschaft bewerben, aber oft ist die Auseinandersetzung mit sich selbst ein guter Startpunkt. Die Beschäftigung mit dieser vermeintlichen Ohnmacht war auch für uns in der Probenarbeit emotional aufreibend.

Foto: Gerhard Breitwieser
Wie kommt man dann von diesen Schmerzpunkten zu einem Stück, das so viele komische Momente enthält?
Das Leben ist weder ausschließlich Tragödie noch ausschließlich Komödie. Es ist beides. Wir machen zwar politisches Theater, wollen aber auch unterhalten. Das zu verbinden, ist Knochenarbeit. Die sich aber auf jeden Fall lohnt, denn Humor ist ein ganz wichtiges Vehikel, weil er Abstand zu sich selbst schafft. An genau den Punkten, wo wir nicht mehr weiterwissen, wo die Not groß wird, wird es lustig. Da holen wir das Publikum ab. Komik hat für mich also immer etwas mit Scheitern zu tun. Die Zuseher*innen bringen wir damit im besten Fall in Situationen, in denen sie sich fragen, ob sie nun lachen dürfen oder nicht. Das Lachen bleibt ihnen im Halse stecken.
Ich möchte auch noch über die choreografischen Elemente in euren Arbeiten sprechen. Welche Funktion übernimmt die Choreografie?
Wie bereits gesagt, ist die Bewegung genauso ein Bedeutungsträger wie der Text oder die Musik. All diese Elemente sind gleichwertig. Bewegung hat in den Stücken vor allem die Funktion der Kompensation. Es geht um Momente, in denen sich das Versagen der Sprache und eine gewisse Not plötzlich im Körper zeigen. Wie auch um ein Durchleben von Missständen. Sie nur aufzuzeigen, reicht mir nicht. Für das Publikum liegt darin vielleicht ein kathartisches Moment, weil eine andere Art der Verarbeitung möglich wird.
Was für Bewegungsabläufe erwarten das Publikum bei „Ragazzi del Mondo“?
Diesmal ging es uns unter anderem darum, einen bestimmten Machismo zu zeigen. Europa rüstet auf. Was tut das mit uns? Und warum ist wird das als so selbstverständlich hingenommen? Diesen Rückschritt in männlich geprägte Kriegsattitüden habe ich aufgenommen, breche ihn aber auch wieder, weil ich beispielsweise die Frauen im Ensemble diese stereotypen Bewegungsmuster ausführen lasse. Mir geht es immer auch um eine Verzerrung von Wahrnehmung. Das ist meiner Meinung nach auch eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst. Außerdem treibt mich die Dekonstruktion von patriarchalen Strukturen schon seit „Antigone“, meinem ersten Stück mit dem aktionstheater ensemble, um und an.
Ich möchte noch einmal auf das Miteinander zu sprechen kommen. Bemerkenswert an euren Abenden finde ich nämlich auch, dass alle Spieler*innen ziemlich gleichberechtigt vorkommen …
Das hat etwas mit Humanismus und mit Liebe zu tun. Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber es ist so. Wenn ich einen liebevollen Blick auf mein Gegenüber habe, dann erfahre ich auch mehr, dann kann ich mich wirklich auf jemanden einlassen.
Im Oktober seid ihr mit „All about me“ am New Yorker Broadway. Wie kam das?
Über einen Regisseur, der „Alles normal“ gesehen hat und seiner Frau, einer New Yorker Theaterdirektorin, davon vorgeschwärmt hat. Wir kamen ins Gespräch. Spannend fand ich, dass sie unsere Arbeit dem absurden Theater zugeordnet hat.
Auch in London hattet ihr bereits ein Gastspiel …
Mit „Pension Europa“. Das hat uns gezeigt, dass unsere Stücke auch auf Englisch funktionieren und sich der Humor überträgt. Das Londoner Publikum hat sich scheckiggelacht. Wir haben tolle Kritiken bekommen. Eine Kritikerin hat einen Bogen zur Freud hergestellt (lacht). Das ist sehr schön.

Foto: Maximilian Lottmann