Mehr geht nicht – echt nicht. Primaballerina assoluta, das ist ein Titel, den es nicht einmal in unserem titelverrückten Land gibt. Vielleicht, weil man für diesen Titel die außergewöhnlichsten Leistungen bringen muss – und nicht nur einfach älter werden wie beim (ich beleidige jetzt vermutlich viele Menschen) so begehrten Herrn Hofrat. Die Frau, die den Primaballerina-assoluta-Titel trägt, ist Alessandra Ferri, die neue Chefin des Wiener Staatsballetts.

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Die gebürtige Mailänderin hat unzählige Leben gelebt, und sie ist nicht nur eine Ikone des Tanzes, sondern auch der Mode – geliebt und hofiert von den großen Modemarken der Welt und den internationalen Hochglanzmagazinen, von der „Vogue“ abwärts. Der war Ferris letzter Tanzauftritt in New York im vergangenen Sommer (da war Ferri 61 Jahre alt) eine mehrseitige Story wert.

Ferri ist Glamour. Ferri ist Können. Ferri ist Disziplin. Ferri ist jetzt Chefin des Staatsballetts. Und das ist doch was …

Zeitlose Schönheit

Alessandra Ferri ist recht spontan. Oder, wie sie selbst im Interview gleich sagen wird: „Ich plane nichts.“

Kurz nach dem Fotoshooting mit der BÜHNE ging sie zum Friseur, und weg waren die langen Haare, die Sie hier rund um den Text noch sehen. „Zeit, was zu ändern“, sagt sie beim Interview und lacht. Jetzt endet die Frisur an den Schultern. Passt ihr wunderbar, und nachdem wir das jetzt auch besprochen haben – zurück zur Hochkultur.

„In unserer nächsten Saison werden wir zeigen, was Ballett ist und was es in Zukunft sein wird“, sagt sie. Wir langweilen Sie jetzt nicht mit einer Aufzählung der Stücke – die entnehmen Sie bitte dem bei-
gelegten Programmheft der Wiener Staatsoper. Daher gleich zu unserem Gespräch

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Alessandra Ferri
Mit 51 – Comeback als Weltklasse-Tänzerin. Alessandra Ferri: „Das Wunderbare an meiner zweiten ­Karriere war, dass ich erkannt habe, dass ich nicht mit der Tänzerin, die ich einmal war, konkurrieren durfte. Ich musste eine neue Tänzerin erschaffen.“

Foto: Andreas Jakwerth

Frau Ferri, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Ballettauftritt?

Ich war dreizehn Jahre alt, und schon ­damals hatte ich – so wie bis ans Ende meiner ­Karriere – Angst vor dem Auftritt. Wenn man auf die Bühne geht, dann fühlt sich das riesig an. Der Raum, den wir als Tänzerinnen füllen, ist ja kein physischer Raum. Es ist etwas Größeres und Tieferes, und die Angst kommt daher, dass man sich im Vergleich zur Größe der Kunstform und der Verbindung zwischen den Menschen, dem Publikum, der Musik und dem Raum sehr klein fühlt. Ich frage mich immer: „Werde ich diesen Raum ausfüllen?“ Aber sobald ich auf der Bühne stehe, verschwindet die Angst, und ich fühle, dass ich Teil der größeren Realität sein kann.

Sie haben mir vorhin erzählt, dass Tanz ein Spiegel ist – können Sie mir das genauer erklären?

Es geht um die verschiedenen Phasen, die ich durchlaufen musste: Ich habe ja sehr jung angefangen und erst vor Kurzem aufgehört – meine Karriere war also sehr lang. Jeden Tag muss man sich den Schwierigkeiten stellen, besser zu werden, sich seiner Verletzlichkeit, seiner Zerbrechlichkeit und seiner Stärke stellen. Aus diesem Blickwinkel ist Tanz ein Spiegel. Denn durch den Weg, den ein Tänzer täglich durchmachen muss, wird er zu diesem Spiegel. Wissen Sie, man verändert auch sein Instrument. Der Körper ist lebendig, und der Körper verändert sich ständig – auch emotional. Je nachdem, was im Leben passiert. Man wird also jeden Morgen mit einem neuen Instrument konfrontiert. Ja, auch ­Musikinstrumente ändern sich, aber es gibt mehr zu arbeiten, wenn das Instrument man selbst ist.

Was braucht es für Werkzeuge, wenn man eine derart lange Karriere auf Weltniveau überleben will?

Es braucht Engagement. Es braucht Demut, um Veränderungen zu akzeptieren und mit den körperlichen ­Veränderungen zu wachsen. Man muss die Gegenwart annehmen. Sich immer hinterfragen, wo
man als Künstler und als Mensch steht, und es braucht viel kluge Arbeit, Disziplin und die Willenskraft, niemals nachzulassen. Irgendwann wird einem der Körper dann sagen, dass es genug ist – aber bis dahin kann man seinen Körper bis zu einem gewissen Grad weiterentwickeln.

Sie haben mit 44 Ihre Karriere zum ersten Mal beendet. Warum?

Verschiedene Gründe. Manche waren privater Natur. Ich habe zwei Kinder und war viel unterwegs, und meine Kinder waren in einem Alter, in dem ich sie nicht mitnehmen konnte. Ich wollte meine Prioritäten anders setzen. Außerdem hatte ich als Tänzerin ein Repertoire aufgebaut, für das ich international stand, aber mit dem ich technisch zunehmend – wie soll ich es sagen – zu kämpfen hatte. Also dachte ich: Es ist klug aufzuhören.

Alessandra Ferri
Der Säulengang vor ihrem neuen Arbeitsplatz. Über ihre Pläne sagt Ferri: „Ich werde Choreografen des 20. Jahrhunderts vorstellen, die Tanzgeschichte ­geschrieben haben, und solche, die heute relevant sind und die die Zukunft des Balletts gestalten.“

Foto: Andreas Jakwerth

Na gut – aber mit 51 gaben Sie ein umjubeltes Comeback. Haben Sie Ihre Familie nicht mehr ausgehalten?

(Lacht.) Es ist einfach passiert – ich bin kein Planer. Ich plane mein Leben nie. Ich weiß nie, was als Nächstes kommt. Normalerweise bin ich ziemlich im Einklang mit mir selbst und spüre, wann es Zeit für etwas ist. Nach den ersten Jahren, in denen ich körperlich nichts gemacht und alles komplett abgesagt habe, habe ich wieder mit dem Training angefangen, weil es sich gut für meinen Körper anfühlte. Mein Körper musste das tun, was er immer getan hatte, um sich wohlzufühlen. Ich ging zurück in den Tanzunterricht, und langsam dachte ich mir: „Hey, mir geht es gar nicht so schlecht.“ Und dann fielen mir die Dinge einfach zu. Ich traf auf der Straße in New York Martha Clarke, eine wunderbare Regisseurin und Choreografin. Sie sagte: „Alessandra, ich wollte schon immer mit dir arbeiten, aber du hattest nie Zeit“, und ich sagte: „Jetzt habe ich viel Zeit.“ Wir begannen, an etwas zu arbeiten. Das Tanzstück „Chéri“ haben wir dann hundertmal am Broadway gespielt. Bei einer dieser Aufführungen kam Wayne McGregor und sagte: „Ich würde gerne mit dir arbeiten“, und er bot mir „Woolf Works“ in London, im Covent Garden, an.

Das Stück ist bis heute ein Megaerfolg. Wie hat Ihr Körper auf dieses Comeback reagiert?

Es war ein sehr schmerzhafter Prozess, der viel Arbeit und Disziplin gefordert hat – aber am Ende stand dieses unglaubliche Meisterwerk von Wayne. Und dann schuf Choreograf John Neumeier mit „Duse“ ein Werk für mich. Wissen Sie: Das Wunderbare an meiner zweiten Karriere war, dass ich erkannt habe, dass ich nicht mit der Tänzerin, die ich einmal war, konkurrieren durfte. Ich musste eine neue Tänzerin erschaffen.

Sie haben mit den Superstars Nurejew und Baryshnikov getanzt – wie war das?

Es war sehr einschüchternd. Ich war jung – und sie waren Stars. Misha verdanke ich sehr viel: Er war anspruchsvoll, und er hat mich Konsequenz und Demut gelehrt. Er hat gesagt: Man muss seinem Talent dienen und nicht darauf hoffen, dass einem das Talent dient.

Sie haben auch in einem legendären Video von Sting ­getanzt – bei dem er halbnackt Gitarre spielt.

(Lacht.) Unsere Familien sind gut befreundet, und es war einfach so, dass hier zwei Künstler gemeinsam ein Projekt machen wollten. So hat jeder von uns gemacht, was er am besten kann.

Alessandra Ferri
Internationale Stil-Ikone. Schauen Sie nur genauer hin: Das Kleid von Alessandra Ferri besteht aus lauter Ballettschuhen. Ferri ist mit vielen großen Designern befreundet, über ihre Arbeit wird auch international in großen Magazinen (zum Beispiel „Vogue“) berichtet.

Foto: 2021 Amber Hunt

Sie haben gesagt, es muss bei der Programmierung hier in Wien ein Gleichgewicht zwischen Wurzeln und Blüten geben … 

Damit die Blume in der Gegenwart erblühen kann, muss sie Wurzeln haben. Diese Wurzeln muss man kennen, damit man weiß, welche Blume da blühen wird. Die Wurzeln der Compagnie liegen in einem Opernhaus mit einer unglaublichen Geschichte. Um den Glanz und die Bedeutung dieser Geschichte zu verstehen, müssen wir darauf aufbauen. Ich werde Choreografen des 20. Jahrhunderts vorstellen, die Tanzgeschichte geschrieben haben, und solche, die heute relevant sind und die die Zukunft des Balletts gestalten.

Ein weiteres Zitat: „Der einzige Weg zur Freiheit ist Disziplin und Leidenschaft.“ Gefällt mir sehr.

Ich glaube, das gilt für alle Menschen – zumindest ist das meine Erfahrung. Um zu erreichen, was einen erfüllt und glücklich macht, braucht man Disziplin. Freiheit besteht darin, anzukommen und das zu tun, was du willst. Dafür muss man Arbeit investieren. Das kann innere Arbeit sein, aber auch äußere. Ich habe den Probenprozess oft mehr genossen als die eigentliche Aufführung, weil die Proben immer eine Reise des Lernens sind. Das ist anstrengend, aber es bringt dich weiter.

Der große Grantler und Direktor des Hauses Ioan Holender hat, wenn Ballett am Spielplan war, immer gesagt: Heute ist spielfrei. Tanztradition schaut anders aus.

(Lacht.) Ich denke, die Dinge haben sich geändert. Stimmt schon: Hier ist es nicht so wie an der Pariser Oper, wo der Tanz im Vordergrund steht, oder in London, wo der Stellenwert schon im Namen steht: Royal Ballet and Opera. Aber lasst uns mal dran arbeiten (sie lacht wieder herzlich). Ich werde zwar nicht morgen hundert Ballettvorstellungen haben, aber die Kompanie ist jetzt schon großartig und hat die Voraussetzungen, noch weiter zu wachsen.

Alessandra Ferri
Da freuen sich aber alle sehr. Lotte de Beer (Volksoper), Alessandra Ferri und Bogdan Roščić – das Staatsballett ist für beide großen Häuser zuständig. Das Foto wurde bei der Präsentation Ferris im vergangenen Jahr in der Wiener Staatsoper aufgenommen.

Foto: Andreas Jakwerth

Was muss die perfekte Tänzerin, der perfekte Tänzer mitbringen?

Es ist nicht die perfekte Tänzerin, die ich suche. Ich suche Tänzerinnen mit ausgeprägten technischen und interpretatorischen Fähigkeiten, um das Repertoire, das wir aufführen werden, präsen­tieren zu können. Ich habe einen gewissen ­Standard, und den möchte ich auch vermitteln.

Das Staatsballett tanzt in der Volksoper und in der Staatsoper – was ist für Sie der Unterschied?

Ich möchte die beiden Einheiten nicht so sehr trennen. Es gibt verschiedene Anforderungen. Die Tänzer*innen der Volksoper müssen vielseitiger sein – Oper, Operette, Musical. Es sind dort mehr Experimente möglich. Aber das ist keine Wertung. Das Spannende für die Tänzer*innen ist die Bandbreite der Choreografen, mit denen sie in den beiden Häusern arbeiten können.

Isabella Rossellini ist eine Freundin von Ihnen. Ich finde, das wäre endlich mal ein g’scheiter Opernballgast. Haben Sie sie schon eingeladen?

(Lacht.) Ich habe sie schon gefragt. Ich habe zu ihr gesagt: „Bitte, irgendwann musst du kommen.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das machen wird. Aber wann, das weiß ich nicht. Vielleicht passt es ja terminlich mit dem Ball. Wir werden sehen.

Alessandra Ferri
„Um das zu erreichen, was einen glücklich macht, braucht man Disziplin“, sagt Alessandra Ferri.

Foto: Andreas Jakwerth