„Ist es nicht schön, zu denken, dass morgen ein neuer Tag ist, an dem es noch keine Fehler gibt?“ Ja, das ist schön. Es ist ein Gedanke, mit dem man einfach verweilen möchte. Ein Satz, den man sich auch gestickt rahmen lassen könnte. Der guttut, weil er einfach wahr ist und die Lächerlichkeit der von uns allen inszenierten Wichtigkeit demaskiert.

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Und weil der Satz uns gerade so gefallen hat, hier gleich noch einer: „Neben dem Versuchen und Gewinnen ist das Beste, es zu versuchen und zu scheitern.“ 

Und noch einer (gleich haben Sie es geschafft): „Wir zahlen einen Preis für alles, was wir in dieser Welt bekommen oder nehmen. Und obwohl Ambitionen es wert sind, sie zu haben, sind sie nicht billig zu gewinnen, sondern fordern ihre Arbeits- und Selbstverleugnungs-, Angst- und Entmutigungsgebühren.“

Victoria Hauer in der Hauptrolle

Alle diese drei wunderschönen Sätze lässt die kanadische Autorin Lucy Maud Montgomery 1908 ihre Heldin Anne of Green Gables sagen. Der Kinderbuch-­Hit wurde millionenfach verkauft und unzählige Male verfilmt. Jetzt bringt das Theater der Jugend – endlich – die Geschichte von Anne auf die Bühne.

Victoria Hauer, eines der großen Talente des TdJ und Darstellerin von Anne: „Was ich an Anne so faszinierend finde und was ich mir ein bisschen von ihr abschauen will, ist nicht nur, dass sie so ungefiltert ist, sondern dass sie wahnsinnig mutig ist. Dass sie sich Dinge traut, bei denen ich selber immer dreimal nachdenke: Soll ich das jetzt wirklich machen? Und dann sage: Nein, ich mach das lieber nicht, weil es vielleicht unangenehm ankommt. Ergo Mut zum Scheitern. Anne macht einfach. Das würde ich mir für mein Leben gerne mitnehmen.“

Mark Twain als Fan

Der Inhalt des Weltbestsellers: Anne Shirley, eine rothaarige, sommersprossige Waise, landet auf dem Bauernhof des älteren Geschwisterpaars Matthew und Marilla, die eigentlich einen Buben erwartet haben. Anne erobert durch ihr unglaubliches Temperament, ihr unab­lässiges verschwurbeltes Reden („Die Leute lachen mich aus, weil ich große Wörter benutze. Aber wenn Sie große Ideen haben, müssen Sie große Wörter verwenden, um sie auszudrücken, nicht wahr?“) nicht nur die Herzen ihrer neuen Pateneltern, sondern auch die des restlichen Dorfes. 

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Der Charakter von Anne kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? Nur ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten „Anne“-Buches wurde dieses ins Schwedische übersetzt und zum Lieblingsbuch der 1907 geborenen Astrid Lindgren – und Anne viele, viele Jahre später die Vorlage für Pippi Langstrumpf.

Übrigens: Einer der ersten Fans von „Anne of Green Gables“ war niemand Geringerer als Mark Twain, der Lucy Maud Montgomery enthusiasmiert einen Fanbrief schrieb.

Lucy Maud Montgomery, 1874 auf Prince ­Edward Island, Kanada, geboren, verfasste 450 Geschichten und 500 Kurzgeschichten.

Foto: Privatsammlung ~ Anonymous

Die Botschaft: Lebe dein Leben

Thomas Birkmeir, Regisseur und Direktor des Theaters der Jugend, hat den Stoff genommen, ins Heute versetzt und mit Liedern und Rap-Sequenzen – vor allem in den Erzählphasen – vermischt. Birkmeir über seine Begegnung mit Pippis Oma: „In Österreich ist Anne nicht so bekannt wie in anderen Ländern. Ich bin auf sie gestoßen, weil Astrid Lindgren ein Fan war. Und ich habe dann eine Mädchenfigur entdeckt, die für die Zeit, in der sie entstanden ist, völlig un­typisch ist. Ich wollte etwas schaffen, das einerseits eine klare Botschaft hat und andererseits die Kinder und Jugendlichen auch von den Sesseln reißt. Und es ist ein Stoff, der Mädchen und natürlich auch Buben ermutigt, ihr eigenes Leben zu leben.“ Am 14. Dezember ist Premiere. Gespielt wird bis 29. Jänner.

Das Grundmotiv Birkmeirs, das sich durch all seine Arbeiten zieht: Stellung zu beziehen für all jene, die anders sind und sich anders fühlen, und das junge Theaterpublikum sensibel für das Gute zu machen. Dafür ist Anne of Green Gables die perfekte Vorlage, das perfekte Stück. Lucy Maud Montgomerys Botschaft: Bildung macht Mädchen unabhängig. Frauen und Männer sind gleichberechtigt.

Langweilige Rettung durch den Prinzen

Schauspielerin Shirina ­Granmayeh: „Mich haben schon als Kind diese klassi­schen Geschichten gestört. In den ­Disneyfilmen wird die Prinzessin immer vom Prinzen gerettet. Ich fand das unglaublich langweilig. Meine Lieblingsheldin war Mulan, weil sie für ihren Vater in den Krieg zieht. Das fand ich cool. Ich finde es wichtig, dass Stereotype aufgebrochen werden.

Dass wir mit Anne zeigen dürfen, dass es auch anders geht.“ Die junge Schauspielerin holt kurz Luft und setzt nach: „In der englischen Sprache spielt das Geschlecht beim Job überhaupt keine Rolle. Man ist einfach lawyer oder doctor. Das halte ich für den besten Weg. Warum ist es relevant für einen Job, ob ich weiblich oder männlich bin?!“

Noch langer Weg zur Gleichberechtigung

Sie nicken gerade zustimmend? Na dann, hier ein paar Zahlen, die uns in die Realität zurückholen: Noch immer verdienen Frauen – so die Statistik Austria – im landesweiten Durchschnitt um 18,5 Prozent weniger als Männer. Anfang 2021 waren 9 Prozent der Geschäftsführungen und 23,5 Prozent der Aufsichtsratsposten bei den 200 umsatzstärksten Unternehmen in Österreich mit Frauen besetzt. Das ist zwar ein Höchststand, aber trotzdem irgendwie peinlich. Und ungerecht. 

Vor allem, wenn man diese Zahlen mit folgenden vergleicht: Während 2019 nur 37 Prozent der Männer die Matura erfolgreich absolviert haben, waren es 51,6 Prozent der Frauen. Im selben Jahr wurden im Übrigen 55 Prozent der Uni-Abschlüsse von Frauen erworben.

Große Themen des Zusammenlebens

Damit wären wir wieder bei „Anne of Green Gables“. Es ist ein magisches Stück Literatur, das sowohl Kinder als auch Eltern verzaubert. All die großen Themen des Aufwachsens und des menschlichen Zusammenlebens werden im „Anne of Green ­Gables“-Kosmos durchdekliniert und positiv aufgelöst. 

Schauspielerin Pia Baresch: „Ich finde, Anne und Pippi Langstrumpf, das sind Rollen, die zeigen, dass Mädchen genauso stark sein können wie Buben. Das soll in diesem Stück vermittelt werden, und das ist richtig und wahr. Diese Muster, in die man immer hineingesteckt wird, müssen aufgeweicht werden.“ 

Susanne Altschul ist die erfahrenste Schauspielerin in der Runde. Sie ist viel herumgekommen in ihrer langen Karriere: Thalia Theater, Schauspielhaus Zürich, lange das Simpl. „Das Schöne an dem Stück ist, dass Anne sehr viel Positives in Bewegung setzt. Als ich politisiert wurde, haben wir gegen Nazi-Professoren an der Uni demonstriert. Wir haben kurze Röcke getragen und wurden in der Straßenbahn beschimpft. Ich hatte ein wenig die Befürchtung, dass die Jugend konservativer geworden ist, aber Fridays for Future gibt mir Hoffnung. So, wie es dieses Stück tut.“

Hier passend das nächste Anne-Zitat zum Verlieben: „Ist es nicht großartig, an all die Dinge zu denken, die es zu entdecken gibt? Es macht mich einfach froh, am Leben zu sein – es ist eine so interessante Welt. Es wäre nicht halb so interessant, wenn wir über alles Bescheid wüssten, oder? Dann gäbe es keinen Raum für Vorstellungskraft, oder?“ Was für ein schöner Schlusssatz.

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