Man kann die Farbe des Sommers über der milchig gelben Donau ermessen. Die Zutaten des im Winter servierten Punschs wittern. Die Schmerzen des physisch verschlissenen Wrestlers René bei jedem Schlag des Gegners spüren. Seinen Selbstekel – betrunken hinter einer Mülltonne liegend – schmecken. Den Lippenstift der überschminkten Dame, die sich als beredte Philosophin des Alltags erweist, nuanciert bestimmen. Und die Liebe, für die es so weniger Worte bedarf, empfinden.

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Mehr kann man von einem Roman wohl nicht erwarten. Weniger aber auch nicht, heißt sein Autor doch Robert See-thaler. Der in Wien-Favoriten aufgewachsene und seit 23 Jahren in Berlin lebende Schriftsteller hat sich in einem Hotel im siebten Bezirk eingemietet, um über sein aktuelles Buch „Das Café ohne Namen“ zu sprechen. 

„Ich muss mich zurücklehnen und erst einmal öffnen, sonst fällt mir nichts ein“, erklärt er zu Beginn, „wenn das okay ist, denke ich einfach laut.“ 

Das Wort Thema in der Eingangsfrage, wie er auf diese Geschichte rund um Robert Simon, den Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt, der ein Café eröffnet, das zum existenziellen Universum aller im Roman vorkommenden Existenzen wird, gekommen sei, missfällt ihm. 

„‚Thema‘ ist ein merkwürdiges Wort, zu dem ich keine Verbindung habe. In diesem Buch geht es um ein Leben, in das auch Erfahrungen meines eigenen Lebens einfließen. Ich bin Wiener, zwar nicht im zweiten Bezirk aufgewachsen, sondern im zehnten, aber die Gegenden waren einander damals sehr ähnlich. Meine Eltern sind in der Leopoldstadt groß geworden, vielleicht war das Schreiben eine Annäherung an meine Vergangenheit.“ Nachsatz: „Mit der nötigen Distanz.“ Die Stadt befindet sich zwei Jahrzehnte nach Ende des Kriegs im Aufbruch, ökonomisch wie gesellschaftlich. 

Dennoch erscheinen die 1960er-Jahre für Spätgeborene in manchen Passagen vermutlich wie ein historisch-archäologischer Abriss. Vierteltelefone. Milchgeschäfte. Heumarktkämpfe. Robert Seethaler beschreibt jedes Detail, von den Scharnieren des im Keller zischenden Heizkessels bis hin zur Anzahl der Toiletten in der gerade entstehenden UNO-City (987). Dabei mag er auch das Wort Recherche nicht. „So eine Geschichte ist wie ein Fluss, der auch nicht nur eine Quelle hat, sondern sich aus vielen Zuflüssen speist. Das heißt, ich habe ein Leben lang gesammelt und mich irgendwann einmal zwei Jahre lang hingesetzt, um zu schreiben.“ 

Robert Seethaler

Foto: Urban Zintel

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Zur Person: Robert Seethaler

war als Schauspieler in zahlreichen Film-, TV- und Theaterproduktionen zu sehen, ehe er 2006 seinen ersten Roman „Die Biene und der Kurt“ veröffentlichte. 2012 erschien „Der Trafikant“ (2018 mit Bruno Ganz verfilmt), 2014 der in 40 Sprachen übersetzte Roman „Ein ganzes Leben“. Seethaler lebt als freier Schriftsteller in Berlin

Haarscharfes Hinschauen

Er schmunzelt. „Okay, ein paar Sachen muss man recherchieren. Wie in jedem anderen Job auch gibt es Aufgaben, die einem zuwider sind, die aber trotzdem erledigt werden müssen. Alles andere ist einfach das Ergebnis genauer Beobachtung. Man muss möglichst nahe an die Dinge herangehen und genau hinschauen. Manchmal muss man nur benennen, was ist. Ich habe keine Ahnung, wer das Wasserglas auf diesen Tisch, an dem wir sitzen, gestellt hat. Aber ich erkenne die Rundung, das blaue Blitzen, und je länger ich meine Augen geschlossen halte, desto mehr sehe ich.“

Auch schenke er seinen Charakteren eine ganz andere Aufmerksamkeit, als der Interviewer vermutet. „Ich erschaffe sie. Sie entstehen vor mir, lösen sich aus dem Nebel des Unbewussten. Man sieht vor sich einen Glutpunkt leuchten, und wenn man Glück hat und lange genug hinschaut, wächst dieser Punkt und wird zu einer Figur, einem Namen, einer Jahreszahl oder einem Ort. Und dann vielleicht zu einer Geschichte. Auch historische Figuren wie Mahler oder Freud (in den Romanen „Der letzte Satz“ und „Der Trafikant“; Anm.) müssen neu erschaffen werden. Man kann nicht einer Wirklichkeit, die es ja so gar nicht gibt oder die man nur annimmt, hinterherschreiben. Fakten wie der Geburtstag,
das Aussehen und das Sterbedatum sollten natürlich stimmen, der Rest aber ist das Ergebnis genauen Hinsehens.“ 

Ich bin ein Augenblickschreiber. Ich kann und will auch gar nicht in Strukturen, Plots und entlang roter Fäden denken.

Robert Seethaler

In diesem Zusammenhang fällt ein weiteres Wort, das dem – und das sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten, seinem Gesprächspartner freundlich zugewandten – Schriftsteller widerstrebt. Es geht um die liebevolle Beziehung zwischen ihm und den von ihm Erschaffenen. 

„Der Begriff ‚Figur‘ geht mir auf den Geist. Ich schreibe von Menschen, nicht über Figuren. Man sieht sie mit all den Widerlichkeiten und Widerständen, die sie mit sich herumtragen. Dabei ist es weniger Liebe als bedingungslose Aufmerksamkeit, die man ihnen in jedem Augenblick schenken muss.“ 

Er versuche beim Schreiben auch nicht zu bewerten. „Wertfreies, zweckfreies, absichtsloses Schreiben“, so definiert er sein schriftstellerisches Ideal. „Natürlich trägt jeder Augenblick eine Intention in sich. Aber eine Absicht wird schon im nächsten Augenblick von der folgenden Absicht verscheucht. Ich bin ein Augenblickschreiber. Ich kann und will auch gar nicht in Strukturen, Plots und entlang roter Fäden denken. Es geht wirklich nur darum, zu schauen, was jetzt ist. Und jetzt. Und jetzt. Wieso halten Sie jetzt die Hand so vor Ihrem Gesicht? So versuche ich zu entdecken und nicht von vornherein zu wissen, wer Sie sind. Oder wie Robert Simon ist. Oder wie die Welt tickt.“ 

Anstrengende Befriedigung

Ist das Schöne an seinem Tun das Erschaffen oder das Schreiben selbst? „Schreiben ist überhaupt nicht schön. Es ist anstrengend, nie zu wissen, wo es langgeht. Wer in Augenblicken denkt, bewegt sich ja nur langsam. Es geht nur in kleinen Schritten weiter, ein Roman hat aber einen langen Bogen, und diesen zu halten ist beschwerlich. Manchmal ist die Auseinandersetzung mit dem Augenblick auch lustvoll. Es ist ein staunendes Beobachten.“

Warum widmet man einem solch mühseligen Prozess dann so viel Zeit und Energie? „Ich habe in meinem Leben nichts Befriedigenderes gefunden“, antwortet Robert Seethaler so ehrlich wie auch auf jede andere Frage. „Ich habe viel Aufregenderes und kurzfristig auch Erfüllenderes erlebt, aber im Endeffekt hat mich vieles in meinem Leben fast zerrissen. Schreiben hat für mich auch etwas Beruhigendes. Konzentriert zu bleiben. Am Punkt. Die Linie ist ja nur eine Aneinanderreihung von Punkten.“ 

Thomas Glavinic schreibt angeblich jeden Tag exakt eine Seite und bricht sogar mitten im Wort ab, sollte das Pensum erreicht sein. Es gibt Autoren, die täglich von 8 bis 16 Uhr schreiben, so, als würden sie einer Bürotätigkeit nachgehen. Andere wiederum arbeiten sehr unregelmäßig. Welcher Schreibtypus ist Robert Seethaler? 

„Ich bin überhaupt kein Typus“, ist man wenig überrascht, „weder ein Menschentypus noch ein Schreibtypus. Manchmal denke ich, es wäre schön, eine Struktur zu haben. Ich habe aber keine. Wenn ich Hunger habe, dann esse ich, und wenn ein Satz in meinen Kopf kommt, schreibe ich ihn auf, falls ich gerade zu Hause bin. Und falls nicht, muss ich ihn irgendwie festhalten, oder er geht verloren. Was aber mittlerweile nicht mehr so schlimm ist wie früher, weil ich weiß, dass ohnehin der nächste kommt.“ 

Fortgesetzte Scham

Robert Seethaler belegt regelmäßig Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste, sein Roman „Ein ganzes Leben“ stand auf der Shortlist für den International Booker Prize, er schreibt Drehbücher und wurde 2022 mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Viele seiner Werke wurden dramatisiert und aufgeführt, er ist der erfolgreichste Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, der früher auch bekannter Schauspieler war. In der Verfilmung seines über eine Million Mal verkauften Buchs „Der Trafikant“ hatte er 2018 einen Cameo-Auftritt. Steht er heute noch auf der Bühne? 

„Nein, das Theater war für mich nur beschämend“, antwortet er ohne lange Überlegung. „Oder vielmehr schambesetzt. Scham ist sowieso ein Lebensthema von mir. Wollen Sie die Vorgeschichte hören?“ Selbstverständlich. „Ich sehe sehr schlecht, bin mit einem schweren Augenfehler zur Welt gekommen, war auf der Sehbehindertenschule und bin mehrfach operiert worden. Das heißt, ich hatte als Kind schon eine ganz eigene Erlebniswelt, die eingeschränkt war und gerade deswegen umso freier und weiter. Sehr fantasievoll, um es verkürzt darzustellen. Als junger Mann wollte ich mich aus dieser beschränkten Ecke meiner Kindheit offenbar herausbewegen und habe, über viele Umwege, die Schauspielschule besucht, um mich dort ins Licht zu stellen. Licht ist etwas, wonach ich immer strebe, wonach ich mich sehne und was mich gleichzeitig fast bis zur Blindheit auflösen kann. Mit der Schauspielerei habe ich mich dem Licht ausgesetzt, was eine Weile gut ging und vor allem an der Schauspielschule auch lustvoll war.“

Nicht zuletzt war er in seinem Beruf auch bald etabliert und auf vielen Bühnen engagiert. „Aber es wurde schnell zu einer Belastung, der ich nicht mehr gewachsen war. Innerlich hat es mich beinahe zersetzt. Was ich damals noch nicht wusste: Das war die Scham. Wie eine offene Wunde dazustehen und sich betrachten zu lassen. Wenn Sie mich anschauen, habe ich die Möglichkeit, dem auszuweichen oder Sie ebenfalls anzusehen. Ich kann damit spielen, aber auf einer Bühne geht das nicht. Da wird man angesehen und verliert die Kontrolle. Das kann für viele etwas Lustvolles haben, für mich war es erschreckend. In ‚Der Trafikant‘ habe ich geschrieben: Die Lust und die Scham sind zwei Geschwisterchen, die Hand in Hand durchs Leben gehen. Bei mir war das Geschwisterchen Lust recht verkümmert.“ Der Beurteilung durch andere, der er auch als Schriftsteller ausgesetzt ist, möchte er nicht zu viel Macht über sein Leben geben. Auch wenn ihn bei vielen positiven Rezensionen die wenigen negativen nicht kaltließen. 

„Man ist ja doch verletzt, wenn auch nur kurz. Es ist eine Augenblicksverletzung. Bei anderen Künstlern ist die Schwelle zur Verletzungswut höher. Bei Schauspielern zum Beispiel toben sich Rezensenten oft weniger aus als bei Schriftstellern.“ 

Der Erfolg sei insgesamt auch keine große Hilfe, sondern generell abstrakt, „was wirklich überwiegt, sind die vielen schönen, berührenden und zugewandten Stimmen“. Einmal sei bei einer Lesung von „Ein ganzes Leben“ eine junge Frau auf ihn zugekommen und habe ihm erzählt, ihr Vater habe das Buch sterbenskrank gelesen. Zuletzt habe sie ihm vorlesen müssen. „Sie hat mir dann den Satz gezeigt, den ihr Vater als letzte Worte in seinem Leben gehört hat. In solchen Momenten wird völlig egal, wie andere Menschen über dein Buch urteilen.“

Verschobene Wirklichkeit

In „Das Café ohne Namen“ fällt der lebenskluge Satz: „Man sollte sich immer ein bisschen mehr Hoffnung als Sorgen machen.“ Hält sich sein Erschaffer daran? „Ja, das ist ein guter Satz“, meint er zurückgelehnt und nun bereits weit geöffnet, „hat er gut geschrieben, der Erzähler.“ 

Ein weiteres Zitat, das man sich gerne ins imaginäre Stammbuch schreiben möchte: „Man sollte sich lieber dem Schwachsinn nähern als der Verbitterung.“ 

Robert Seethaler lacht. „Meine Einstellung ist tatsächlich, dass es nichts Hässlicheres gibt als frustrierte alte Menschen. Darum ist es doch sympathischer, zu verblöden, als verbittert zu werden. Das ist allerdings eine schwere Aufgabe, es ist richtige Arbeit.“ 

Wie kommt man zu solchen Sätzen, zu dieser Musikalität, dem flirrenden Sound?

„Diese Instanz muss man in sich schaffen und über die Jahre aufbauen, um darauf vertrauen zu können, dass die aneinandergereihten Augenblicke eine Linie oder ein Feld ergeben. Das hat mit Lauschen zu tun. Man muss eine halbe Sekunde länger hinhören, die Dialoge stehen knapp neben der Wirklichkeit, sind ganz leicht verschoben. Das soll sich beim Schreiben vermitteln und vermittelt sich offenbar auch. Deswegen gefällt mir ‚flirrend‘ als Beschreibung sehr gut.“

Vielen Dank, Herr Seethaler.